Wieder ein Hauch von Houdini
Angelique Kerber zittert sich ins Achtelfinale und schöpft neue Hoffnung – „Vielleicht ist das der Wendepunkt“
(SID/dpa) - Ein Bild bringt die Erinnerungen zurück. Und damit die Hoffnung. Angelique Kerber reißt das rechte Bein in die Höhe und den Mund weit auf. Die Unterarme winkelt sie an, die freie Hand ballt sie zur Faust. Mit der linken umklammert sie ihren Schläger. Vor Glück schreit sie laut auf.
Nach Wochen voller Niederlagen, Selbstzweifeln und Kritik war Kerbers Jubelpose – in ihrem traumhaften Tennisjahr 2016 ein Markenzeichen – beinahe in Vergessenheit geraten. In Wimbledon hat die Kielerin sie wiederentdeckt, und auch wenn sie noch auf der Suche nach ihrer Bestform ist: Immerhin den Kampfgeist hat Kerber gefunden. Er war stets ihre größte Stärke.
Auch Rittner atmet auf
„Es ist wichtig für mich zu sehen, dass ich es noch kann. Ich kann wieder Matches drehen“, sagte Kerber nach dem hart erkämpften 4:6, 7:6 (7:2), 6:4 gegen Shelby Rogers aus den USA. „Vielleicht“, fügte sie hinzu, „ist das der Wendepunkt. Wir werden sehen. Auf jeden Fall war das ein wirklich wichtiger Sieg.“
Mit dem Rücken zur Wand, als Außenseiterin, auf die niemand mehr auch nur ein Pfund setzen will – so fühlt sich Kerber am wohlsten. Die Amerikaner hatten ihr einst den Spitznamen Houdini verliehen, Kerber (29) erinnerte sie an den großen Entfesselungskünstler, der sich mit Tricks und Täuschungen aus jeder noch so ausweglosen Enge befreien konnte. Auch am Samstag war der nächste sportliche Tiefpunkt bedrohlich nahe gerückt, Rogers hatte sie am Rand einer Niederlage. 4:6, 2:4 und 30:40 lag Kerber zurück, das Aus in der ersten Wimbledon-Woche und der Sturz vom Tennisthron standen kurz bevor. Doch in diesem Moment setzte Kerber zur Wende an. „Der Punkt, der das Match endgültig gedreht hat“, kam für Kerber ein Spiel später. Sie befreite sich wie in besten Tagen aus der Defensive, erlief einen Stopp und hatte plötzlich einen Breakball. „Der Schlüssel war, dass ich nach jedem Ball gerannt bin und nie aufgegeben habe“, sagte sie erleichtert. Nach dem French-OpenAus in Runde eins als Tiefpunkt vor sechs Wochen kann schon das Achtelfinale beim bedeutendsten Turnier als Erfolg gewertet werden. Auch Bundestrainerin Barbara Rittner atmete nach dem Krimi über 2:17 Stunden auf. „Das war ein Sieg mit Herz und Leidenschaft, auch wenn ab und zu noch die letzte Überzeugung gefehlt hat“, sagte die FedCup-Chefin. Doch noch ist es nicht mehr als eine vage Hoffnung, dass die 29-Jährige durch den Arbeitssieg gegen die Weltranglisten-70. Rogers die „Handbremse im Kopf“gelöst hat, wie es sich Rittner wünscht. Zum dritten Mal in fünf Tagen zitterte Kerber, zum dritten Mal behielt sie die Nerven, doch jedes Mal wurde es knapper.
Heute (12.30/Sky) im Achtelfinale gegen die Spanierin Garbine Muguruza wartet zudem eine äußerst heikle Aufgabe auf die Vorjahresfinalistin. Gegen die French-Open-Siegerin von 2016 und Wimbledon-Finalistin von 2015 hat Kerber die vergangenen vier Partien allesamt verloren. Im direkten Vergleich liegt sie 3:4 zurück. Doch das sage „nichts aus“, so Kerber. „Ich kann nicht nur hoffen und rüberbringen“, sagte Kerber vor dem Duell mit der Spanierin, in Wimbledon dieses Jahr noch ohne Satzverlust. Dafür schlage die „zu doll, dafür ist sie zu gut und erfahren“.
Trotz spricht aus ihrer Stimme, und trotzig muss Kerber sein, um sich und ihre Gegnerin auf dem Court quälen zu können. Die Rolle der Branchenführerin, die alleine durch majestätische Ausstrahlung die Konkurrenz einschüchtert, lag ihr nie. Das Bild der Kämpferin mit weit aufgerissenem Mund und geballten Fäusten taugt eher dazu, sich verlorenen Respekt zurückzuholen.