Ipf- und Jagst-Zeitung

Warum sich Paare scheiden lassen

Stress und virtuelles Fremdgehen führen zur Trennung – Zahl der Scheidunge­n sinkt aber

- Von Ira Schaible

(dpa) - Nie war eine Scheidung so einfach wie heute. Trotzdem entschließ­en sich weniger Menschen in Deutschlan­d zu diesem Schritt. Männer haben bei einer Ehescheidu­ng ihren 45. Geburtstag schon hinter sich und Frauen längst den 40. gefeiert: Das gilt in Deutschlan­d dem Statistisc­hen Bundesamte­s zufolge 2016 jedenfalls im Durchschni­tt.

Die Scheidungs­zahlen sinken weiter leicht, das Alter dagegen steigt. Diese anhaltende Phase drückt nach Einschätzu­ng von Trendforsc­her Harry Gatterer „das Ende der Individual­isierung“und „ein neues Verständni­s füreinande­r“aus. Familienth­erapeut Achim HaidLoh hält einen „ganz neuen Typus“für ausschlagg­ebend: „Es lassen sich immer mehr ältere Ehepaare auch im hohen Alter mit 70 und 80 Jahren noch scheiden.“Die meisten Menschen durchlebte­n im Alter von 50 bis 55 Jahren eine Art Lebenskris­e und orientiert­en sich in manchem neu, sagt Gatterer, der Geschäftsf­ührer des Zukunftsin­stituts in Frankfurt und Wien ist. Dazu könne auch ein neuer Partner gehören. „Jedem ist klar, dass er 80 oder 90 Jahre alt werden kann und Zeit hat.“

Enttäuschu­ngen im Alltag

Für den Rückgang der Scheidungs­zahlen gibt es nach Einschätzu­ng von Evelyn Grünheid vom Bundesinst­itut für Bevölkerun­gsforschun­g noch mehr strukturel­le Gründe: Die Zahl der Verheirate­ten gehe zurück. Zugleich seien unter den Eheleuten deutlich mehr Ältere. Die Scheidungs­häufigkeit bei den Jüngeren sinke stärker als bei den Älteren, sagt die Forschungs­direktorin aus Wiesbaden. Das Heiratsalt­er habe sich auch geändert: „Wer jetzt heiratet, macht es später und bewusster als früher.“Trotzdem: „Das partnersch­aftliche Ideal von Beziehung auf Augenhöhe, bei der man sich die Kindererzi­ehung, den Haushalt und die Berufstäti­gkeit teilt, zerbirst an der Realität“, berichtet Haid-Loh. Diese asymmetris­che Aufteilung von Kinderbetr­euung und Erwerbsarb­eit führe zu Enttäuschu­ngen, Stress und Trennung. Andere blieben zusammen, höhlten ihre Partnersch­aft und Sexualität aber so weit aus, dass sie sich trennten, wenn die Kinder aus dem Haus seien.

Der Bielefelde­r Paartherap­eut Detlef Vetter berichtet: „Neu ist virtuelles Fremdgehen.“Für den Umgang mit Internetpo­rnografie und Erotik-Chats hätten Paare noch keine Regeln. Dazu kämen die Belastunge­n der Arbeitswel­t: Viele betrachtet­en die Beziehung als Rückzugsra­um. Dies führe oft zu dem gegenseiti­gen Vorwurf: „Ich investiere in die Beziehung, und du nimmst nur raus!“

Soziologe Michael Wagner von der Universitä­t Köln betont: „Das soziale Problem ist nicht die Scheidung, sondern die Kinder, die darunter leiden.“Fast 132 000 waren 2016 betroffen. „Viele Befunde sprechen dafür, dass Scheidungs­kinder ein etwas höheres Risiko für Bildungsna­chteile und Beeinträch­tigungen der psychische­n Gesundheit haben“, sagt Forschungs­direktorin Sabine Walper vom Deutschen Jugendinst­itut in München. „Das trifft jedoch keineswegs alle Scheidungs­kinder, sondern ist davon abhängig, welche Probleme durch die Trennung der Eltern entstehen oder ihr schon vorausgega­ngen sind.“

Zeit spiele auch eine Rolle. „In der Regel brauchen Scheidungs­familien rund zwei Jahre, um Regelungen zu treffen, neue Routinen aufzubauen und die emotionale­n Belastunge­n zu verarbeite­n“, sagt Walper. In dieser Zeit gehe es den Kindern zumeist schlechter. Aber: „Für Kinder mit sehr zerstritte­nen Eltern ist es langfristi­g meist günstiger, wenn sie sich trennen, als wenn diese zusammenbl­eiben – außer, der Streit geht auch nach der Trennung weiter.“

Soziologe Wagner fordert, ein „stilvolles Scheidungs­ritual“zu entwickeln, „um es den Ex-Partnern leichter zu machen, Wut und Trauer besser zu bewältigen“. Als Beispiel nennt er ein Treffen von Verwandten und Freunden nach der Scheidung, ähnlich wie bei einer Beerdigung – wobei es nach der Scheidung „nicht unbedingt traurig zugehen muss“. Die regionalen Zahlen und Fakten für Baden-Württember­g und Bayern finden Sie in einer Grafik unter

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FOTO: MARTIN GERTEN Die Menschen in Deutschlan­d heiraten später und lassen sich später scheiden, auch noch nach der Silberhoch­zeit.

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