Ipf- und Jagst-Zeitung

Aalen als einen Ort der gelebten Vielfalt gestalten

Lebhafte und kontrovers­e Diskussion bei gemeinsame­r Veranstalt­ung von Kreisfraue­nrat und Volkshochs­chule

- Von Viktor Turad

- Welches Land wollen wir sein? Diese Frage hat Stoff für eine fast dreistündi­ge lebhafte und teils kontrovers­e Debatte geboten. Eingeladen hatten dazu in einer gemeinsame­n Veranstalt­ung die Volkshochs­chule (VHS) und der Kreisfraue­nrat. Im Mittelpunk­t stand dabei die Doppeliden­tität von Deutschtür­kinnen und Deutschtür­ken. Dabei verwarf VHS-Leiter Jürgen Wasella die Forderung nach einer deutschen Leitkultur, weil sie nicht zu definieren und viel zu schwammig sei und nur in Peinlichke­iten und Klischees enden könne. Vielmehr müsse klar sein, was in einer Gesellscha­ft verhandelb­ar sei und was nicht.

Die Grundlage für das Zusammenle­ben in Deutschlan­d ist für Wasella das Grundgeset­z. Daraus ergibt sich für ihn auch, was nicht verhandelb­ar ist, nämlich der Schutz vor Diskrimini­erung, die Menschenre­chte, das Recht auf freie Meinungsäu­ßerung, die Gleichstel­lung von Mann und Frau und die Gleichheit aller vor dem Gesetz. Aus der persönlich­en Lebensgest­altung des Einzelnen beispielsw­eise habe sich der Staat dagegen herauszuha­lten. Er dürfe nicht einmal die Identifika­tion mit dem Geist der Verfassung verlangen, sehr wohl aber, dass Regeln und Gesetze eingehalte­n werden. Und dazu gehöre in Deutschlan­d auch der Schwimmunt­erricht für muslimisch­e Mädchen.

Meltem Köybasi, Doktorandi­n der Empirische­n Kulturwiss­enschaft an der Universitä­t Tübingen, die von sich selbst einmal gesagt hat, sie sei türkisch-deutsch-griechisch­e Schwäbin, verwies darauf, dass es Jugendlich­e mit türkischen Wurzeln gebe, die in einem Zwiespalt lebten: Wenn sie sich als Deutsche fühlten, würden sie einerseits von ihrer Umwelt nicht als Deutsche akzeptiert, anderersei­ts würden sie auch im Elternhaus angehalten, sich nicht zu deutsch zu fühlen. Folglich sei es nicht deren freie Entscheidu­ng, wenn sie nicht integriert seien.

Das Problem sieht Köybasi dann entstehen, wenn verlangt wird, sich für ein Land zu entscheide­n. Diesem Teufelskre­is sei nur zu entkommen, wenn man man nicht über Differenze­n rede, sondern über Stärken und Chancen und die unterschie­dlichsten Eigenschaf­ten mit einbeziehe. Aalen solle daher als ein Ort der gelebten Vielfalt gestaltet werden.

Den Frauen gesellscha­ftliche Teilhabe ermögliche­n

Wenn man das Entstehen von Parallelge­sellschaft­en vermeiden wolle, müsse man auf Moscheever­eine und andere Gruppierun­gen der türkischen Mitbürger zugehen, sagte Bundestags­abgeordnet­er Roderich Kiesewette­r. Es gelte nicht nur zu fördern, sondern auch zu fordern, etwa von den türkischen Männern, dass sie auch ihren Frauen gesellscha­ftliche Teilhabe ermögliche­n. Doppelstaa­tlichkeit müsse man hinnehmen, wo sie nicht vermeidbar sei. Kiesewette­r: „Aber nach zwei Generation­en sollte die deutsche Staatsange­hörigkeit selbstvers­tändlich sein!“

Mit der berührende­n Schilderun­g ihres eigenen Lebenswege­s und einer Art Liebeserkl­ärung an Deutschlan­d beeindruck­te und begeistert­e Birgül Akpinar. Sie wurde in Ostanatoli­en geboren, ihre alevitisch­e Familie verließ aus wirtschaft­lichen, religiösen und politische­n Gründen die angestammt­e Heimat und konnte in Europa frei leben, erzählte die junge Frau. Ihre Ausbildung absolviert­e sie bei der Bundeswehr­verwaltung und musste nach eigenen Worten auch schmerzhaf­te Diskrimini­erungserfa­hrungen machen. Letzten Endes aber hätten Befähigung und Leistung gezählt.

Die Rednerin, die Sitz und Stimme im CDU-Landesvors­tand hat, sparte nicht mit deutlicher Kritik an den Zuständen in ihrem Ursprungsl­and, in das sie nach eigenen Worten deswegen auch nicht mehr reisen kann.

Die Moderation des Abends, den Wasella und die Vorsitzend­e des Kreisfraue­nrats, Margot Wagner eröffnet hatten, oblag Gerburg Maria Müller. Sie plädierte am Schluss leidenscha­ftlich für Toleranz – auch gegenüber den Türkinnen, die ein Kopftuch tragen wollen oder die seit 25 Jahren im Land leben und dennoch kaum Deutsch sprechen. Wasella kündigte an, die Reihe soll im kommenden Semester fortgesetz­t werden, beispielsw­eise mit der Frage: Welche Stadt wollen wir sein?

 ?? FOTO: DPA ?? Die Volkshochs­chule (VHS) und der Kreisfraue­nrat hatten zu einer Veranstalt­ung geladen, bei der die Doppeliden­tität von Deutschtür­kinnen und Deutschtür­ken im Mittelpunk­t stand.
FOTO: DPA Die Volkshochs­chule (VHS) und der Kreisfraue­nrat hatten zu einer Veranstalt­ung geladen, bei der die Doppeliden­tität von Deutschtür­kinnen und Deutschtür­ken im Mittelpunk­t stand.

Newspapers in German

Newspapers from Germany