Aalen als einen Ort der gelebten Vielfalt gestalten
Lebhafte und kontroverse Diskussion bei gemeinsamer Veranstaltung von Kreisfrauenrat und Volkshochschule
- Welches Land wollen wir sein? Diese Frage hat Stoff für eine fast dreistündige lebhafte und teils kontroverse Debatte geboten. Eingeladen hatten dazu in einer gemeinsamen Veranstaltung die Volkshochschule (VHS) und der Kreisfrauenrat. Im Mittelpunkt stand dabei die Doppelidentität von Deutschtürkinnen und Deutschtürken. Dabei verwarf VHS-Leiter Jürgen Wasella die Forderung nach einer deutschen Leitkultur, weil sie nicht zu definieren und viel zu schwammig sei und nur in Peinlichkeiten und Klischees enden könne. Vielmehr müsse klar sein, was in einer Gesellschaft verhandelbar sei und was nicht.
Die Grundlage für das Zusammenleben in Deutschland ist für Wasella das Grundgesetz. Daraus ergibt sich für ihn auch, was nicht verhandelbar ist, nämlich der Schutz vor Diskriminierung, die Menschenrechte, das Recht auf freie Meinungsäußerung, die Gleichstellung von Mann und Frau und die Gleichheit aller vor dem Gesetz. Aus der persönlichen Lebensgestaltung des Einzelnen beispielsweise habe sich der Staat dagegen herauszuhalten. Er dürfe nicht einmal die Identifikation mit dem Geist der Verfassung verlangen, sehr wohl aber, dass Regeln und Gesetze eingehalten werden. Und dazu gehöre in Deutschland auch der Schwimmunterricht für muslimische Mädchen.
Meltem Köybasi, Doktorandin der Empirischen Kulturwissenschaft an der Universität Tübingen, die von sich selbst einmal gesagt hat, sie sei türkisch-deutsch-griechische Schwäbin, verwies darauf, dass es Jugendliche mit türkischen Wurzeln gebe, die in einem Zwiespalt lebten: Wenn sie sich als Deutsche fühlten, würden sie einerseits von ihrer Umwelt nicht als Deutsche akzeptiert, andererseits würden sie auch im Elternhaus angehalten, sich nicht zu deutsch zu fühlen. Folglich sei es nicht deren freie Entscheidung, wenn sie nicht integriert seien.
Das Problem sieht Köybasi dann entstehen, wenn verlangt wird, sich für ein Land zu entscheiden. Diesem Teufelskreis sei nur zu entkommen, wenn man man nicht über Differenzen rede, sondern über Stärken und Chancen und die unterschiedlichsten Eigenschaften mit einbeziehe. Aalen solle daher als ein Ort der gelebten Vielfalt gestaltet werden.
Den Frauen gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen
Wenn man das Entstehen von Parallelgesellschaften vermeiden wolle, müsse man auf Moscheevereine und andere Gruppierungen der türkischen Mitbürger zugehen, sagte Bundestagsabgeordneter Roderich Kiesewetter. Es gelte nicht nur zu fördern, sondern auch zu fordern, etwa von den türkischen Männern, dass sie auch ihren Frauen gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen. Doppelstaatlichkeit müsse man hinnehmen, wo sie nicht vermeidbar sei. Kiesewetter: „Aber nach zwei Generationen sollte die deutsche Staatsangehörigkeit selbstverständlich sein!“
Mit der berührenden Schilderung ihres eigenen Lebensweges und einer Art Liebeserklärung an Deutschland beeindruckte und begeisterte Birgül Akpinar. Sie wurde in Ostanatolien geboren, ihre alevitische Familie verließ aus wirtschaftlichen, religiösen und politischen Gründen die angestammte Heimat und konnte in Europa frei leben, erzählte die junge Frau. Ihre Ausbildung absolvierte sie bei der Bundeswehrverwaltung und musste nach eigenen Worten auch schmerzhafte Diskriminierungserfahrungen machen. Letzten Endes aber hätten Befähigung und Leistung gezählt.
Die Rednerin, die Sitz und Stimme im CDU-Landesvorstand hat, sparte nicht mit deutlicher Kritik an den Zuständen in ihrem Ursprungsland, in das sie nach eigenen Worten deswegen auch nicht mehr reisen kann.
Die Moderation des Abends, den Wasella und die Vorsitzende des Kreisfrauenrats, Margot Wagner eröffnet hatten, oblag Gerburg Maria Müller. Sie plädierte am Schluss leidenschaftlich für Toleranz – auch gegenüber den Türkinnen, die ein Kopftuch tragen wollen oder die seit 25 Jahren im Land leben und dennoch kaum Deutsch sprechen. Wasella kündigte an, die Reihe soll im kommenden Semester fortgesetzt werden, beispielsweise mit der Frage: Welche Stadt wollen wir sein?