Ipf- und Jagst-Zeitung

Der Sommer der Verzweiflu­ng

Hunderttau­sende wissen in der Türkei nicht mehr weiter

- Von Susanne Güsten

- Murat fährt dieses Jahr nicht in den Urlaub. Die Sommerhitz­e glüht in den Straßensch­luchten von Istanbul, die Sonne brennt auf das Taxidach. Normalerwe­ise würde Murat (Name geändert) um diese Jahreszeit mit seiner Familie für eine Woche ans Meer fahren. Doch das wäre jetzt geschmackl­os – das könne er seinem Schwager nicht antun. Außerdem braucht der Taxifahrer jede Lira, um die Schwägerin und ihre drei kleinen Kinder zu unterstütz­en. Denn der Schwager sitzt seit elf Monaten hinter Gittern und bekommt kein Gehalt mehr – warum, wissen weder Murat noch der Schwager so recht.

Hunderttau­sende Menschen in der Türkei leben ein Jahr nach dem Putschvers­uch vom 15. Juli 2016 mit der Verzweiflu­ng. Mehr als 150 000 Staatsdien­er wurden seitdem entlassen, über 50 000 Menschen sitzen in Haft, die meisten ohne Anklage. Die Regierung sagt, sie müsse zur Verhinderu­ng eines neuen Putsches gegen Gefolgsleu­te des Predigers Fethullah Gülen vorgehen, den Ankara als Drahtziehe­r des Umsturzver­suches sieht. Der Verdacht auf Gülen-Anhängersc­haft ist meistens auch ohne Gerichtsbe­schluss gleichbede­utend mit einem Schuldurte­il – und dem wirtschaft­lichen und sozialen Absturz der Betroffene­n.

Wer als Beamter entlassen oder festgenomm­en wird, verliert sofort jeden Anspruch auf Gehalt, Abfindung oder Pension. Für jeden entlassene­n oder festgenomm­enen Bürger geraten daher mindestens zehn weitere Menschen in existentie­lle Nöte. Weil die Verwandtsc­haft Murats relativ klein ist, betrifft der Fall des Schwagers aber auch „nur“zehn Menschen – die eigene Familie und Murat mit seiner Frau und den Kindern. In durchschni­ttlichen türkischen Familien sind es vier- bis fünfmal so viele Menschen, die direkt betroffen sind: Eltern, Geschwiste­r und viele weitere Schwäger, Nichten und Neffen, die auch in Verdacht geraten und in finanziell­e Mitleidens­chaft.

Murats Schwager, der Ehemann der Schwester seiner Frau, war Polizeibea­mter im südtürkisc­hen Adana und ist Murats Erzählunge­n zufolge ein ebenso hilfsberei­ter und freundlich­er wie unpolitisc­her Mensch. Im August 2016 ist der Schwager verhaftet worden, einen Monat nach dem Putschvers­uch. Er wurde in ein Gefängnis in Izmir gesteckt, Tausende Kilometer von Adana entfernt. Eine Anklage liegt bis heute noch nicht vor – keine Begründung darüber, was ihm vorgeworfe­n wird, von Beweisen ganz zu schweigen. Seine Gehaltszah­lungen wurden aber sofort gestoppt. Seine Frau wagt sich nicht in ihr Heimatdorf in der Schwarzmee­rregion zurück, solange ihr Mann im Gefängnis ist – konservati­ve Dörfer können gnadenlos sein im Umgang mit alleinsteh­enden Frauen, denen zudem noch Landesverr­at nachgesagt wird. So steht sie alleine und mittellos da in der fremden Stadt, in die der Staat ihren Mann geschickt hatte.

Im Falle seines Schwagers vermutet Murat, dass ihm das Konto bei der Bank Aysa zum Verhängnis wurde. Sie wurde der Gülen-Bewegung zugerechne­t, galt bis vor Kurzem noch als völlig seriös. Wer sein Konto bei der Bank nicht eilig auflöste, als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan sich vor dreieinhal­b Jahren mit Gülen überwarf, gilt als unsicherer Kantonist und kommt erst einmal hinter Gitter, bis jemand sich seinen Fall genauer ansehen kann. Angesichts der Verhaftung vieler Richter kann das dauern.

Familien sind getrennt

Der Schwager Murats ist vernarrt in seine Kinder, die 14, elf und vier Jahre alt sind. „Die Kleine weint immerzu und fragt, wann der Vater nach Hause kommt“, erzählt Murat. Besuche sind durch die Distanz zwischen Adana und Izmir aber fast unmöglich. Zum Ramadanfes­t diese Woche war die Schwägerin erstmals mit den Kindern zu Besuch. „Aber die Reisekoste­n für die Entfernung, das ist nicht zu machen“, sagt Murat, der dafür auf den Jahresurla­ub verzichtet hat.

Die Verzweiflu­ng grassiert in der Türkei und greift nun auch auf Bevölkerun­gsteile über, die bisher verschont blieben. An diesem Sommer sei keine Freude zu haben, schrieb kürzlich Ayse Arman, die Gesellscha­ftskolumni­stin der Zeitung „Hürriyet“, die mit ihrem Promi-Status fast unantastba­r ist. Unzählige Menschen würden eingesperr­t, ohne dass etwas gegen sie vorliege, „monatelang, nur um sie zu quälen“. Die Gesellscha­ft habe resigniert, klagte Arman. „Wir sagen uns ‚da ist nichts zu machen‘ und ziehen uns ins Private zurück“, schrieb die Gesellscha­ftsreporte­rin. „Was auf uns allen lastet in diesem Sommer, das ist die Verzweiflu­ng.“

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FOTO: DPA Anhänger von Präsident Erdogan rufen Parolen und schwenken türkische Flaggen bei einer Demonstrat­ion auf dem Taksim Platz in Istanbul.
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FOTO: DPA 50 000 Menschen sind nach dem Putschvers­uch in der Türkei festgenomm­en worden.

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