Ipf- und Jagst-Zeitung

Die Retter Europas

Christophe­r Nolan mahnt in seinem bewegenden Kriegsdram­a „Dunkirk“Menschlich­keit an

- Von Rüdiger Suchsland

Christophe­r Nolan ist mit „Dunkirk“ein großes Eops gelungen. 330 000 britische Soldaten wurden 1940 vom Strand Dünkirchen­s gerettet bevor die deutsche Wehrmacht vorrückte, unter anderem in Booten von Fischern und anderen Zivilisten. Den Überlebens­kampf zeigt Nolan eher als spannungsg­eladenen Thriller denn als Kriegsfilm.

Es ist mitten in der Nacht, ein Sanitätssc­hiff fährt durch die See, als ein Torpedo fast lautlos unter der Wasserober­fläche auf das Boot zurauscht. Gerade noch hat es warmen Tee gegeben und ein paar gute Worte für die Verwundete­n, Erschöpfte­n. Die Klügeren sind trotzdem in der Nähe des Ausgangs geblieben, in Sichtweite der Türen, die aus dem Schiffsrum­pf nach draußen führen. Den meisten nützt auch das nichts. Als der Torpedo einschlägt dauert es nur Sekunden, dann bricht die Hölle los.

Diese Szene in der Mitte des Films ist besonders eindrucksv­oll, weil sie das Massenhaft­e des Sterbens im Krieg sichtbar macht. Und weil sie zeigt, dass Überleben oft nur von Zufällen abhängt, aber auch davon, etwas wachsamer zu sein, als andere.

„Dunkirk“ist ein Drama des Überlebens. Es geht um „Dünkirchen“, jene lange Woche Ende Mai, Anfang Juni 1940, als Hitlers Wehrmacht nach dem Blitzkrieg das britische Expedition­skorps in Frankreich eingeschlo­ssen hatte. Während die Uhr für die Belagerten tickt, immer neue Sturzkampf­flieger die Bodentrupp­en mit Bombentepp­ichen überziehen und Boote versenken, retteten die Briten den Großteil ihrer Soldaten: das „Wunder von Dünkirchen“.

Wie und warum das möglich war ist aber nicht Thema von Christophe­r Nolans neuem Film. Der Regisseur von so unterschie­dlichen Werken, wie „Memento“, der „Batman“Trilogie und dem atemberaub­enden „Interstell­ar“zeigt keine Generäle, die über Karten gebeugt Divisionen hin und her schieben, er spekuliert nicht über Ursachen von Hitlers „Haltebefeh­l“, der den Briten die notwendige Atempause verschafft­e.

„Dunkirk“zeigt den Krieg, Kampf und Sterben so realistisc­h, wie das eben geht. Dennoch ist es kein Kriegsfilm. In seiner Machart erinnert „Dunkirk“viel mehr an einen Thriller. Da ist der Spitfire-Pilot Collins (großartig: Jack Lowden), der in der Nordsee notlanden muss und sein Kollege Farrier (Tom Hardy), dem der Treibstoff auszugehen droht, und der wählen muss zwischen der Rettung der Maschine und der eigenen Haut – oder der Verteidigu­ng eines vollbelade­nen Schiffes. Da ist der Fischer Dawson (Marc Rylance), der einen traumatisi­erten Soldaten (Cillian Murphy) an Bord hat. Und Tommy (Fionn Whitehead), der nicht ohne Grund so heißt wie der prototypis­che britische Soldat im Zweiten Weltkrieg. Nicht zu vergessen Commander Bolton (Kennegh Brannagh), Kommandeur am Strand, der nur zwischen schlechten Optionen wählen kann. „Dunkirk“ist ein Ensemblefi­lm, der zwischen den Schauplätz­en wechselt, Querverbin­dungen zieht.

Zwei Meister der Filmgeschi­chte, Alfred Hitchcock und Stanley Kubrick, der Engländer und der Wahlenglän­der, sind erkennbar die Vorbilder für diesen Film. Nolans eigene Handschrif­t wird, vom perfekten Handwerk mal abgesehen, vor allem im Filmmateri­al sichtbar: Er hat auf klassische­m Material gedreht, in monumental­er 70mm-Auflösung, die man im IMAX-Kinoformat sehen sollte. Selbstvers­tändlich gibt es den Film nur in 2-D, wird Nolan doch nicht müde zu betonen, dass er 3-D für modischen Schnicksch­nack hält.

Die zweite, unverwechs­elbare Nolan-Note ist die verschacht­elte Erzählstru­ktur: Drei Zeitebenen, mehrere Handlungss­tränge – man kann das manieriert finden, es angesichts der Spannung für unnötig halten, aber es macht den Film zu einer noch dichteren, ungemein intensiven Erfahrung.

Das eigentlich Erstaunlic­he dieses durchaus pathetisch­en, heroischen Films ist, dass der Heroismus gerechtfer­tigt scheint. „Dunkirk“erinnert daran, dass die Briten einmal die Retter Europas waren – eine eindeutige politische Botschaft in Zeiten des Brexit. Eine Botschaft, die der Engländer Nolan genauso an seine eigenen Landsleute richtet wie an die Kontinenta­leuropäer.

Sieht man im Film die vielen Rettungsbo­ote, Menschen, die sich verzweifel­t an Rettungswe­sten klammern, dann muss man im Jahr 2017 schon sehr abgestumpf­t sein, um nicht an die zu denken, die derzeit im Mittelmeer ertrinken. Und an jene kleinen Boote, die heute Europas Ehre retten.

Dunkirk. Regie und Buch: Christophe­r Nolan. Mit Fionn Whitehead, Tom Hardy, Cillian Murphy, Kenneth Branagh. Großbritan­nien 2017. 107 Minuten. FSK ab 12.

 ?? FOTO: MELINDA SUE GORDON ?? Fionn Whitehead spielt den britischen Soldaten Tommy, der am Strand von Dünkirchen auf die Evakuierun­g wartet.
FOTO: MELINDA SUE GORDON Fionn Whitehead spielt den britischen Soldaten Tommy, der am Strand von Dünkirchen auf die Evakuierun­g wartet.

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