„Man macht uns zur Zielscheibe“
Florian Westphal von Ärzte ohne Grenzen zum Umgang Italiens mit Seenotrettern im Mittelmeer
- Florian Westphal, Geschäftsführer von Ärzte ohne Grenzen in Deutschland, befürchtet, dass im Mittelmeer noch mehr Menschen sterben könnten, wenn Italien an dem neuen Verhaltenskodex für Nichtregierungsorganisationen festhält. Es könnten „weniger Schiffe zur Rettung bereitstehen“, sagte Westphal im Interview mit Claudia Kling. Zudem kritisiert er, dass die EU-Mitgliedsstaaten Italien in der Flüchtlingskrise alleine ließen. „Wenn die EU-Staaten endlich ihrer Verantwortung in der Seenotrettung gerecht würden, bräuchte man keine Nichtregierungsorganisationen im Mittelmeer“, so Westphal.
Immer mehr Hilfsorganisationen stimmen dem von Italien geforderten Verhaltenskodex für die Rettung von Flüchtlingen im Mittelmeer zu. Ärzte ohne Grenzen nicht. Warum?
Es gibt zwei Punkte, die uns daran hindern, den Kodex zu unterschreiben. Denn sie könnten dazu führen, dass die ohnehin unzureichenden Rettungskapazitäten im Mittelmeer weiter eingeschränkt würden.
Welche Punkte sind das?
Der Kodex sieht vor, dass die Schiffe von Nichtregierungsorganisationen gerettete Menschen nicht mehr an andere Schiffe übergeben dürfen, sondern direkt in einen Hafen bringen müssen. Bislang war es so, dass in enger Kooperation mit der italienischen Leitstelle für die Seenotrettung in Rom versucht wurde, diese Menschen für den Hafentransport auf größeren Schiffen zusammenzulegen, um möglichst viele Schiffe in der Zone zu halten, in der sich die meisten Seenotfälle ereignen. Einige Organisationen arbeiten zudem mit relativ kleinen Schiffen, die Erste Hilfe leisten können, aber nicht für den Transport geeignet sind. Ein Verbot dieser Transfers führt dazu, dass weniger Schiffe zur Rettung bereitstehen. Das kann zu mehr Toten führen.
Sie lehnen es doch auch ab, bewaffnete Polizeibeamte an Bord zu lassen. Aber wären diese Beamten nicht hilfreich, um gegen ebenfalls bewaffnete Kriminelle oder Schlepper unter den Flüchtlingen vorgehen zu können?
Wir haben den italienischen Behörden klar gesagt, dass wir kein Problem damit hätten, wenn unbewaffnete Polizeibeamte an Bord wären, solange sie nicht die medizinische Versorgung der Menschen behindern. Aber das fand kein Gehör. Wir haben Projekte in 70 Ländern, die oft von Gewalt geprägt sind. Und in keinem unserer Projekte sind Waffen zugelassen, weil sie unsere Mitarbeiter und Patienten in Gefahr bringen könnten. Sobald die Geretteten von Bord gehen, haben die italienischen Behörden doch alle Möglichkeiten zu prüfen, ob von diesen Menschen ein Sicherheitsrisiko ausgeht. Aber wir als humanitäre Nichtregierungsorganisation wollen keinesfalls Teil eines sicherheitspolitischen Ansatzes sein.
Kam es schon einmal zu Gewalt an Bord eines Ihrer Schiffe?
Nicht gegen unsere Mitarbeiter. Die Menschen sind oft in einem sehr schlechten Zustand. Viele waren in Libyen extremer Gewalt ausgesetzt. Andere wurden willkürlich festgenommen, gefoltert, ein Teil der Frauen wurde vergewaltigt. Wir wollen nicht, dass diese Menschen als erstes einen bewaffneten Polizeibeamten sehen, wenn sie aus Seenot gerettet werden. Viele wissen doch gar nicht, in wessen Händen sie sich befinden.
Fühlen Sie sich in der Flüchtlingspolitik eigentlich als Sündenbock der italienischen Regierung?
Die Zielsetzung des Kodex bestand sicherlich auch darin, Druck auf andere EU-Staaten auszuüben. Italien übernimmt wirklich viele Anstrengungen, um im Mittelmeer Leben zu retten. Es wird damit aber alleine gelassen. Die anderen Mitgliedsländer der Europäischen Union, inklusive Deutschland, engagieren sich viel zu wenig, um das Sterben im Mittelmeer zu beenden. Wir reden von mehr als 2400 Menschen, die allein in diesem Jahr ertrunken sind. Wenn die EU-Staaten endlich ihrer Verantwortung in der Seenotrettung gerecht würden, bräuchte man keine Nichtregierungsorganisationen im Mittelmeer. Aber anstatt unser Engagement hervorzuheben, macht man uns zur Zielscheibe. Das ist enttäuschend.
Was sagen Sie zu den Vorwürfen der italienischen Staatsanwaltschaft, mit den libyschen Schleppern zusammenzuarbeiten?
Es ist schwer, zu diesen Vorwürfen etwas zu sagen, weil sie nie offiziell kommuniziert werden. Ich habe bislang kein Dokument eines Staatsanwaltes gesehen, das belegt, dass irgendeine Organisation bewusst und gezielt mit Schlepperbanden kooperiert. Wenn solche Vorwürfe auf glaubhaften Belegen beruhen würden, warum werden diese dann nicht öffentlich gemacht? Natürlich benutzen wir in der Nacht Scheinwerfer, um Boote in Seenot zu finden, von denen wir durch vorangegangene Notrufe bei der Seenotrettungsleitstelle wissen. Aber wir benutzen keine Scheinwerfer, die über 14 Seemeilen zu sehen wären.
Wie nahe fahren Sie bei der Rettung an die libyschen Hoheitsgewässer ran?
Wir sind generell außerhalb der libyschen Hoheitsgewässer. Im vergangenen Jahr gab es bei insgesamt 200 Rettungseinsätzen drei Vorfälle, bei denen wir wegen akuter Notfälle nach Rücksprache mit der Leitstelle in Rom eine halbe Meile in das libysche Hoheitsgebiet hineingefahren sind.
Wie wird sich der vor einer Woche beschlossene Einsatz der italienischen Marine in libyschen Hoheitsgewässern auf Ihre Arbeit auswirken?
Die zentrale Frage ist nicht, wie sich dieser Beschluss auf unsere Arbeit auswirkt, sondern auf die Menschen, die aus Angst vor Gewalt und Tod aus Libyen geflohen sind. Uns würde es größte Sorgen bereiten, wenn die Menschen wieder nach Libyen zurückgebracht würden. Dort sind sie nicht sicher, und sie sind dem Risiko willkürlicher Gewalt ausgesetzt. Und sie können auch nicht zurück durch die Wüste in ihre Heimatländer. Sie haben keine Wahl, außer über das Mittelmeer aus Libyen herauszukommen.
Sie fordern legale und sichere Wege für Flüchtlinge, die nach Europa wollen. Würde dies die Situation auf dem Mittelmeer tatsächlich verändern, wenn man, wie viele es machen, zwischen Flüchtlingen und Migranten unterscheidet?
Das gesamte Geschäftsmodell der Schlepper, die ja wahnsinnig viel Geld damit verdienen, beruht darauf, dass es praktisch keine legalen und sicheren Wege gibt, in Europa Schutz zu suchen. Man müsste also diese Wege schaffen, um dieses Geschäftsmodell zunichtezumachen. Ob dann jemand tatsächlich als Flüchtling anerkannt wird, muss individuell in einem vernünftigen Verfahren geprüft werden. Aber im Moment werden alle – egal ob sie aus wirtschaftlichen Gründen oder vor Kriegen oder politischer Verfolgung fliehen – auf die Schlauchboote gezwungen, weil es keine Alternativen gibt.
Ärzte ohne Grenzen finanziert sich über Spenden. Wie viel von Ihrem Budget fließt in die Seerettung vor Afrika?
2016 flossen allein aus Deutschland rund 663 000 Euro Spendengelder in die Seenotrettung im Mittelmeer. Insgesamt haben wir dafür im vergangenen Jahr rund 10,4 Millionen Euro ausgegeben. Das ist ein Prozent unserer Projektausgaben.
Werden Sie dieses Engagement fortsetzen wie bisher?
Ja, wir werden uns weiterhin auf unsere Kernaufgabe, die Rettung von Menschenleben, konzentrieren. Wer uns dabei Beschränkungen auferlegt, muss für die möglichen Konsequenzen seines Handelns geradestehen – und das heißt in diesem Fall, dass noch mehr Menschen im Mittelmeer sterben könnten.