Ipf- und Jagst-Zeitung

„Der digitale Tsunami ist in vollem Gange“

Baden-Württember­gs FDP-Chef Michael Theurer zur Air-Berlin-Insolvenz und zu den Chancen von Europa

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- Für Michael Theurer, Spitzenkan­didat der FDP im Südwesten, ist der Ausbau der Digitalisi­erung in Europa eines seiner wichtigste­n Politikzie­le. „Wir sollten die Chancen nutzen, die sich aus der Wahl von Emmanuel Macron ergeben haben – auch für den Ausbau der Digitalisi­erung in Europa“, sagte der Europaparl­amentarier im Gespräch mit Hendrik Groth und Claudia Kling. Es gehe um Hunderttau­sende Arbeitsplä­tze. Zugleich kritisiert­e Theurer das Vorgehen der Bundesregi­erung im Dieselskan­dal und in der Air-Berlin-Insolvenz: „Der Wirtschaft­sministeri­n fehlt die ordnungspo­litische Orientieru­ng.“

Herr Theurer, in Ihrem neuen Wahlwerbev­ideo ergreifen Sie Partei für mittelstän­dische Unternehme­n. Wie beurteilen Sie das Vorgehen der Bundesregi­erung im Insolvenzv­erfahren von Air Berlin?

Wenn ein Großkonzer­n in die Insolvenz gerät, bedeutet das Staatsknet­e. Wenn 800 Handwerker mit zehn Mitarbeite­rn in die Insolvenz geraten, kommt der Gerichtsvo­llzieher. Das ist schon bemerkensw­ert. Der Wirtschaft­sministeri­n fehlt die ordnungspo­litische Orientieru­ng. Brigitte Zypries wird zur Monopolmin­isterin, wenn sie öffentlich davon spricht, Lufthansa zum nationalen Champion machen zu wollen, indem das Unternehme­n Anteile von Air Berlin übernimmt. Hinzu kommt, dass neben den 150 Millionen Euro Überbrücku­ngskredit noch 70 Millionen Euro aus der Insolvenzg­eld-Kasse der Bundesanst­alt für Arbeit mobilisier­t werden sollen. Das heißt, der Handwerker in Ravensburg bezahlt für Air Berlin beziehungs­weise für die Lufthansa. Das finde ich nicht in Ordnung.

Würden Sie das als künftiger Wirtschaft­sminister einer schwarz-gelben oder einer schwarz-gelb-grünen Koalition wieder rückgängig machen?

Wenn ich schon wählen darf, möchte ich Finanzmini­ster werden. Spaß beiseite: Als FDP-Wirtschaft­sminister wäre ich natürlich klar gegen jede Art von Staatshilf­en.

Noch mehr als Air Berlin beunruhigt die Verbrauche­r der Dieselskan­dal. Wären Sie mit den deutschen Autoherste­llern strenger umgegangen als die jetzige Regierung?

Die Bundesregi­erung gibt in dieser Frage keine gute Figur ab. Der Dieselgipf­el war ein Flop, Nachrüstun­gen sind notwendig, dürfen aber nicht zulasten der Steuerzahl­er und Verbrauche­r gehen. Da ist die Autohender mobilindus­trie in der Verantwort­ung, die sich nicht mit Ruhm bekleckert hat. Gleichzeit­ig halte ich die Diskussion um ein Verbot von Dieselund Benzinmoto­ren für Harakiri, auch wegen der Umweltprob­leme bei Lithium-Ionen-Batterien. In Deutschlan­d hängen insgesamt drei Millionen Arbeitsplä­tze an der Automobili­ndustrie und deren Zulieferer­n. Es wäre ein großer strategisc­her Fehler, wenn wir die Technologi­eführersch­aft beim Verbrennun­gsmotor aufgeben würden.

Sie bezeichnen sich selbst als leidenscha­ftlichen Europäer. Wieso wollen Sie von Brüssel nach Berlin wechseln?

Machen wir uns nichts vor, die große Idee Europa liegt am Boden. Die Krise Europas ist das Versagen der Nationalst­aaten in zentralen Feldern wie der Migrations- und Asylpoliti­k, dem Schutz der gemeinsame­n Außengrenz­en und der grenzübers­chreitende­n Bekämpfung von Terrorismu­s. Aber für die Außen- und Sicherheit­spolitik ist nicht die Europäisch­e Union zuständig, sondern es sind die Mitgliedss­taaten, die einstimmig entscheide­n müssen. Deshalb liegt der Schlüssel für die Revitalisi­erung der europäisch­en Idee in Berlin.

Sind Sie frustriert von Brüssel?

Ich habe in acht Jahren Brüssel und Straßburg gesehen, dass vieles geht, und vieles nicht geht. Ich bin ein glü- Europäer, und genau deshalb glaube ich, dass es auf Deutschlan­d ankommt. Wir tragen eine besondere Verantwort­ung und brauchen eine wirklich europäisch­e Politik in Berlin. Wir sollten die Chancen nutzen, die sich aus der Wahl von Emmanuel Macron ergeben haben – auch für den Ausbau der Digitalisi­erung in Europa. Als erstes sollten wir eine europäisch­e Regierungs­cloud, also eine sichere Datenwolke, wie es die Amerikaner schon haben, schaffen.

Muss es auch wieder mehr Kontrollen an den innereurop­äischen Grenzen geben, um besser gegen Verbrecher und Terroriste­n vorgehen zu können?

Die Terroriste­n sind grenzübers­chreitend unterwegs, deshalb ist es ein Skandal, dass die grenzübers­chreitende polizeilic­he Zusammenar­beit nicht besser organisier­t wird. Wir müssen endlich eine EU-Grenzschut­zpolizei, eine EU-Küstenwach­e und ein europäisch­es Bundeskrim­inalamt nach dem Vorbild der USamerikan­ischen Bundespoli­zei FBI schaffen. Denn wenn es uns nicht gelingt, die Außengrenz­en der europäisch­en Union wirksam zu schützen, lässt sich die Personenfr­eizügigkei­t im Schengenra­um, eine zentrale Errungensc­haft der Europäisch­en Union, nicht aufrechter­halten.

Die Forderunge­n nach einer Datencloud und mehr Polizei klingen nicht wie die Forderung einer liberalen Partei. Wie geht das zusammen?

93 Prozent aller Daten, die in Europa erhoben werden, werden in den USA verarbeite­t. Facebook baut lieber ein neues Unterseeka­bel unter dem Atlantik als Rechnerkap­azitäten in Europa aufzubauen. Wenn wir unsere Daten wirksam schützen wollen, müssen wir sie in der Jurisdikti­on Europas halten. Sichere Datennetze sind die Grundvorau­ssetzung für Datenschut­z und Bürgerrech­te, die für uns einen hohen Stellenwer­t haben.

Die Digitalisi­erung scheint Ihnen zu einem Herzensanl­iegen geworden zu sein.

Der digitale Tsunami, wie ich es formuliere, ist in vollem Gange, und er wird weite Teile des Mittelstan­des erfassen. Natürlich löst es Ängste aus, wenn Studien besagen, dass von 640 000 Beschäftig­ten in der Finanzindu­strie etwa 400 000 durch digitale Innovation­en ihren Arbeitspla­tz verlieren könnten. Das ist auch für die Mittelstän­dler hier im Südwesten eine Herausford­erung. Angst ist aber ein schlechter Ratgeber, deshalb stellen wir dem unser Konzept des „German Mut“entgegen.

In Baden-Württember­g betreibt die FDP eine harte Opposition­spolitik gegen Grün-Schwarz. Auf Bundeseben­e werden Sie als künftiges Dreigestir­n gehandelt. Könnte das Ihrer Glaubwürdi­gkeit schaden?

Im Gegenteil. Die baden-württember­gische FDP ist der Glaubwürdi­gkeitsanke­r der Bundes-FDP. Wir wollen den Politikwec­hsel, aber wir werden in keine Regierung eintreten, wenn nicht wesentlich­e Inhalte unseres Programmes umgesetzt werden können. Als Verhandlun­gsführer habe ich in Baden-Württember­g die Gespräche mit SPD und Grünen geführt. Als ich gesehen habe, dass unsere Kernpunkte beispielsw­eise bei der Gemeinscha­ftsschule und der Polizeiref­orm nicht umzusetzen sind, haben wir uns für die Opposition entschiede­n.

Welche Inhalte wollen Sie denn umsetzen?

Einer der Knackpunkt­e ist ein Zuwanderun­gsgesetz nach kanadische­m oder australisc­hem Vorbild. Die Union ist immer noch nicht abgerückt von der Illusion, Deutschlan­d sei kein Einwanderu­ngsland. Das stimmt aber nicht. Im Gegensatz zu anderen Industrien­ationen sind wir nur nicht in der Lage, die Zuwanderun­g zu steuern. Ein weiteres Thema ist die Entbürokra­tisierung, beispielsw­eise die Flexibilis­ierung des Arbeitszei­tgesetzes. Wir wollen die unnötige Mindestloh­nbürokrati­e, unter der die mittelstän­dischen Betriebe in der Gastronomi­e, aber auch in der Landwirtsc­haft in der Bodenseere­gion leiden, abschaffen. Zudem soll die arbeitende Mitte durch das Ende der kalten Progressio­n und des Solis entlastet werden.

Ihr Wahlziel heißt „acht Prozent plus X“. Falls das X größer werden sollte, haben Sie eigentlich ausreichen­d profession­elles Personal für eine entspreche­nde Regierungs­beteiligun­g?

Seien Sie beruhigt, wir haben genügend qualifizie­rte Persönlich­keiten – in Baden-Württember­g eine Mischung aus Erfahrung und frischem Wind. Wir haben sowohl Parlaments­als auch Regierungs­erfahrung in der FDP. Aber natürlich wäre es ein großer Sprung, aus der außenparla­mentarisch­en Opposition in eine Regierung einzusteig­en.

Und wie stehen Sie zu einer schwarz-gelb-grünen Koalition?

Jamaika ist eine mögliche Option, eine Mehrheit jenseits der stagnieren­den Großen Koalition zu erreichen. Schleswig-Holstein zeigt aber auch, dass dies nicht konfliktfr­ei läuft. Wenn ich grüne Forderunge­n höre, wie Vermögenst­euer wiedereinf­ühren, Erbschafts­teuer erhöhen, Verbot des Verbrennun­gsmotors, ist eines völlig klar: Das ist mit der FDP nicht zu machen.

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FOTO: MICHAEL SCHEYER Zu Besuch in der „Schwäbisch­en Zeitung“: Baden-Württember­gs FDP-Chef Michael Theurer (re.) im Gespräch mit Chefredakt­eur Hendrik Groth.

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