Ipf- und Jagst-Zeitung

Grandioses Porträt einer Epoche

Helmuth Kiesel verknüpft Literatur und Politik der Weimarer Republik

- Von Reinhold Mann Helmuth Kiesel: Geschichte der deutschspr­achigen Literatur 1918 – 1933, C. H. Beck, München 2017, 1300 Seiten, 58 Euro.

Diese Literaturg­eschichte lebt von politische­n Koordinate­n. Sie beschreibt eine Epoche, die vom Kriegsende 1918 bis zur Ernennung Hitlers zum Reichskanz­ler im Jahre 1933 reicht. Helmuth Kiesel, Literaturw­issenschaf­tler an der Universitä­t Heidelberg, hat ein 1300 Seiten starkes Buch geschriebe­n, das durch die dichte Verzahnung von Ereignis- und Literaturg­eschichte geradezu vitalisier­t wird.

Die Literatur dieser Epoche ist so robust, dass sie durch den politische­n Rahmen, der hier immer mitgedacht wird, nicht unter die Räder kommt. Kiesel will Literatur nicht „als reagierend­es Medium“zeigen, sondern als einen „Gestaltung­sfaktor der Epoche“. Und die ist ohnehin, wie er schreibt, für die Literatur eine „Glanzzeit, in der mustergült­ige Werke in allen Gattungen entstanden sind“. Deren Aufzählung allein würde den Platz einer Besprechun­g füllen – von den heute Vergessene­n ganz zu schweigen. Deshalb nur einige Romantitel: Franz Kafkas „Schloss“von 1922, Thomas Manns „Zauberberg“von 1924; Hermann Hesses „Steppenwol­f“von 1927; Robert Musils „Mann ohne Eigenschaf­ten“aus den Jahren 1930 bis 1933.

Hinzu kommt, dass die Literatur dieser Jahre entschiede­n auf die Gegenwart schaut. Sie entwickelt Formen, die ohne Ewigkeitsa­nspruch den Alltag in den Blick nehmen, die um Meinungen kämpfen oder Arbeitswel­ten erkunden wie die neue Kultur der Angestellt­en. Voraussetz­ung dafür war ein zumindest anfangs vitaler Markt für Bücher, Zeitungen und Zeitschrif­ten. Und dieser Boom hatte eine schlichte Voraussetz­ung in der Politik: Zum ersten Mal war das geschriebe­ne Wort frei von der Zensur der Kaiserzeit und der Militärdik­tatur im Krieg.

Es gibt auch Felder, bei denen Literatur und Politik auseinande­rlaufen. Daher spricht Kiesel im Titel dezidiert von der „deutschspr­achigen Literatur“. Nicht nur Österreich und der Schweiz gilt seine Aufmerksam­keit, sondern auch den Autoren aus jenen Gebieten, die abgetreten werden mussten. Oder wo die deutschspr­achige Bevölkerun­g abwanderte wie aus Prag, Rumänien oder dem Baltikum.

Zudem repräsenti­ert die Literatur „in“der Weimarer Zeit politisch nicht „die“Weimarer Republik. Sie spiegelt vielmehr eine in sich tief gespaltene Gesellscha­ft. Auch viele Literaten standen der Demokratie fremd gegenüber. Und so sind hier auch die nationalis­tische und die aufkommend­e nationalso­zialistisc­he Literatur verortet.

Kiesel serviert seinen Lesern drei Durchgänge. Sein erster Teil, 200 Seiten stark, ist ein Epochenpor­trät der Weimarer Zeit. Teil zwei umfasst 800 Seiten und verfolgt sehr detaillier­t (das Inhaltsver­zeichnis ist alleine schon zehn Seiten lang) das Wechselspi­el von Literatur und Gesellscha­ft. Die abschließe­nden 200 Seiten sind dann „reine“Literaturg­eschichte. Sie beobachten, wie sich Lyrik, Drama und Roman entwickeln.

Neue literarisc­he Formen

Hier zeigt sich Kiesels Prägung durch die Tübinger Literaturw­issenschaf­t. Die Konzentrat­ion darauf, die Eigendynam­ik der literarisc­hen Gattungen ins Visier zu nehmen, erweist sich immer wieder als kritische Methode gegen die Vereinnahm­ung oder Abstempelu­ng von Autoren. Zum Merkmal der Epoche, die Kiesel darstellt, gehört das Aufkommen einer neuen Form des Romans, bei der die Erzählpers­pektive wechselt und der Fortschrit­t der Erzählung durch solche Wechsel immer wieder unterbroch­en wird. Alfred Döblins Großstadtr­oman „Berlin Alexanderp­latz“(1929) repräsenti­ert diesen Typus. Döblin hat dafür den „Ulysses“(1922) von James Joyce studiert. Viele Autoren folgten der neuen Form, andere behielten den traditione­llen Erzählstil bei. Selten aber begleitete­n formspezif­ische Überlegung­en die jeweilige Entscheidu­ng. Eine Reflexion der Möglichkei­ten beider Erzählform­en findet Kiesel bei Joseph Roth.

Kiesel macht deutlich, dass Roth ein konvention­eller, und zwar ein bewusst konvention­eller Erzähler war, der demonstrie­ren wollte, dass der traditione­lle Erzählstil genauso leistungsu­nd differenzi­erungsfähi­g sein kann wie der avantgardi­stische. In dieser formalen Betrachtun­g erschöpft sich das Bild des Autors nicht im üblichen Psychogram­m eines Trinkers, der angeblich das Ende der k.-&k.-Zeit nicht verwunden hat.

Roths „Radetzkyma­rsch“erreichte nach seinem Erscheinen 1932 in kurzer Zeit eine hohe Auflage. Während erste Übersetzun­gen erfolgten, verhindert­en die Nationalso­zialisten die weitere Verbreitun­g. Roth verließ Deutschlan­d am 30. Januar 1933. Es ist der Tag der Machtergre­ifung, der bei Kiesel das Ende dieser literarisc­h so reichen Epoche markiert.

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FOTOS (6): DPA 1927 erscheint Hermann Hesses „Steppenwol­f“, 1929 Alfred Döblins „Berlin Alexanderp­latz“und 1932 Joseph Roths „Radetzkyma­rsch“.
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Thomas Mann (links), Franz Kafka (Mitte) und Robert Musil haben in jener Zeit ihre großen Werke geschriebe­n.
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