Die Frivolität der Reichen
„Happy End“ist die filmische Familienaufstellung einer saturierten Gesellschaft
Michael Haneke, der Regisseur von „Funny Games“und „Das weiße Band“, ist der große Autoritäre unter den Gegenwartsregisseuren. Seine kühle Ästhetik fasziniert durch die schroffe Geste und scharfe Medienkritik. Um so überraschender, wenn sein neuer Film nun ein „Happy End“verspricht. Zugleich erscheint er nicht nur in der Konstellation der Darsteller als Weiterführung seines letzten Films „Amour“.
Die erste Einstellung ist hoch und schmal: offensichtlich die Aufnahme eines Mobiltelefons. Man erkennt eine Frau, sie steht vor dem Badezimmerspiegel und putzt die Zähne. Darüber hören wir Kommentare: „Gurgeln!“– „Ausspucken!“– „Haare kämmen!“– „Licht aus!“– „Bett!“. Dann erzählt eine Kinderstimme von einem Hamster und von Mutters Beruhigungspillen, die unter dessen Futter gemischt wurden. Das Smartphone-Bild zeigt dazu, wie der Hamster leblos im Käfig liegt. „Es funktioniert“stellt die Kinderstimme fest.
Dann öffnet sich das Bild zu einer prachtvollen Totalen, die die Grube einer Großbaustelle zeigt; unten werkeln Arbeiter, die so klein wirken wie Ameisen. Unerwartet setzt sich das ruhige, fast statische Bild in Bewegung. Eine Wand bricht weg, Tonnen von Erde rutschen in die Grube. Dazu wieder ein Kommentar aus dem Off: „Merde!“(Scheiße!).
Das ist Actionkino à la Michael Haneke: Bilder in denen die Spannung kurz vor dem Bersten steht, in denen immer alles möglich ist.
Im Zentrum von „Happy End“steht eine schreckliche Familie. Keine schrecklich nette, sondern einfach eine schreckliche. Eine Familie, für die der Ausdruck „bürgerlich“eher wie Untertreibung klingt. Wenn man mit dem Begriff „Bürgerlichkeit“ vor allem Bildung und Stil, eine über Generationen gewachsene Kultur und Haltung verbindet, kann man hier seine Zweifel haben. Haltung fehlt, der Stil beschränkt sich auf das formelle gemeinsame Frühstück und aufs Silberbesteck.
Die Laurents sind vor allem eines: stinkreich. Sie haben in Calais ein großes Bauunternehmen und finanzielle Probleme, nicht erst seit dem gerade geschilderten Baustellenunglück. Sie wohnen in einer Stadtvilla mit zwei Flügeln, repräsentativem Treppenhaus, Kies umsäumtem Garten und einem aggressiven Schäferhund, der vielleicht Blondie heißt.
Ohne Normen, ohne Haltung
Im einen Flügel wohnt der von JeanLouis Trintignant gespielte, leicht senile Vater, im zweiten seine Tochter Anne (Isabelle Huppert), die die Firma leitet. Auch ihr Bruder Thomas (Mathieu Kassowitz), ein Karrierearzt in der städtischen Klinik, der in zweiter Ehe verheiratet und Vater eines Kleinkinds ist, lebt hier mit seiner neuen Familie. Dazu kommt das Dienstpersonal aus den Maghreb-Staaten, den ehemaligen Kolonien.
Jetzt zieht auch noch Eve mit ein, die dreizehnjährige melancholische Tochter aus Thomas’ erster Ehe, deren Mutter im Krankenhaus im Koma liegt. Sie ist als meist stumme Beobachterin des ganzen Geschehens die Stellvertreterin von uns Zuschauern. Aus ihrer reservierten, latent vorwurfsvollen Perspektive erleben wir die Menschen.
Huppert als geschäftige Tochter, Trintignant als alter Vater, der lebenssatt ist, aber keinen findet, der ihm hilft, zu sterben – das legt eindeutige Spuren: Als der Alte in einer der intensivsten Szenen des Films seiner Enkelin Eve den Tod seiner Frau ziemlich genau so beschreibt, wie es in Hanekes „Amour“geschah, begreifen wir, dass „Happy End“eine konsequente Weiterführung dieses Films ist.
Zugleich unterfüttert Haneke diese Weiterführung mit viel Understatement mit Motiven aus anderen seiner Werke: In „Bennys Video“zeigte er ein Kind, das mit einer Kamera abgründig-unschuldig eigene Gewalttaten filmt. In „Caché“versetzte er sein Publikum in die statisch-kühle Beobachtungshaltung einer Überwachungskamera und konfrontierte die französische Bourgeoisie mit ihrer Schuld aus kolonialen Zeiten. Und in „Code: Inconnu“ging es um das westliche Wohlstandsleben und sein Lumpenproletariat aus Migranten und Flüchtlingen . Der Ort Calais, mit seinen Slums längst ein beschämendes Symbol der Flüchtlingskrise, ist in diesem Zusammenhang natürlich auch nicht zufällig gewählt.
In formaler Brillanz, mit ruhigen, spannungsvollen Tableaus und beherrscht von jenem bitteren Unterton, in dem Michael Haneke nach wie vor unübertroffen bleibt, erlebt man eine filmische Familienaufstellung, die auch die Aufstellung einer saturierten Gesellschaft ist. Es geht um soziale Dynamik in diesem harten, kühlen Film, den man zugleich als sarkastische Komödie begreifen kann.
Sein Thema aber ist todernst: Es ist der Untergang des Westens durch die Frivolität der Reichen und die Unfähigkeit, die eigenen Ideale zu leben. Es ist die Krise einer Gesellschaft, die all ihre Normen und Werte verraten und aufgegeben hat. Bei Haneke ist das Private immer auch politisch.
Happy End. Regie: Michael Haneke. Mit Isabelle Huppert, JeanLouis Trintignant,Toby Jones, Mathieu Kassovitz. Frankreich/ Deutschland/Österreich 2017, 110 Min., FSK ab 12