Kriegskinder
„Ich denke immer wieder zurück und versuche, zu vergessen.“ Abdul-Karim al-Hussian, 12 Jahre, aus Homs „Syrien ist verletzt.“ Ragad Kaddur, 8 Jahre, aus Homs „Ich möchte in meinem alten Zimmer spielen.“ Ala Sherif, 8 Jahre, aus Aleppo
Sie haben den Tod erlebt. Jahrelang. Hunderttausende Menschen fliehen vor dem Bürgerkrieg aus Syrien, suchen Zuflucht in der benachbarten Türkei, wo ihre Kinder in Sicherheit aufwachsen sollen. Rund 1200 syrische Flüchtlingskinder besuchen heute die Schule, die die Stadt Aalen mit Spenden und einem Zuschuss des Landes Baden-Württemberg für sie in der türkischen Partnerstadt Antakya / Hatay gebaut hat. Dort malen sie im Unterricht Bilder, um ihre Erlebnisse zu verarbeiten. Es sind Spiegelbilder ihrer Seele. Ein
Psychogramm des Krieges.
Als die Fassbombe explodiert, sitzt Baraa al-Agrac im Garten unter einem Feigenbaum. 500 Meter entfernt schlägt die Bombe auf der Erde auf, die Druckwelle ist so stark, dass die Scheiben im Haus nebenan zerbersten. Der 13-Jährige, seine sechs Geschwister und die Eltern schnappen Decken, Kissen, Kleidung und fliehen vor dem Tod. „Wir haben unsere Kleider schon gar nicht mehr in Schränke geräumt, sondern in der Nähe der Türe aufbewahrt“, erzählt Baraas Mutter Safa Mohammed. Wenn die Luftangriffe losgingen, musste es schnell gehen. Noch elf dieser Bomben voller Schrapnellen, Nägeln und Benzin werfen die Flieger an diesem Tag im Januar 2013 über der syrischen Stadt Hama ab. Wen sie damit treffen wollen – wer weiß das schon. Fassbomben töten willkürlich.
Baraa, heute 16 Jahre alt, und sein neunjähriger Bruder Abdul-Rahman erzählen von ihrer Heimat, vom Krieg und der Flucht, die sie mit ihrer Familie vor drei Jahren in Aalens Partnerstadt Antakya in der Provinz Hatay geführt hat. Ihre Geschichte steht für tausende Menschen, die wie sie vor dem Bürgerkrieg aus der syrischen Heimat in die benachbarte Türkei geflohen sind. Es ist eine Geschichte über Glauben, Hoffen und Trauern, vom Leben und Sterben, vom Wunsch, dass die Kinder keine Angst mehr haben müssen und in Sicherheit aufwachsen können. Hier in Reyhanli, einer Stadt der Provinz Hatay nahe der syrischen Grenze, endet ihre Flucht – hier beginnt ihr neues Leben. Die beiden Jungen besuchen die Schule für syrische Flüchtlingskinder, die die Stadt Aalen gebaut hat, und auch die Eltern haben in der Stadt Fuß gefasst: Safa Mohammed ist Zahnärztin, ihr Mann Chirurg. Sie hat sich in der Wohnung eine Praxis eingerichtet, er engagiert sich in einem Verein, der Verletzte aus Syrien in Krankenhäuser bringt. Ihr Leben geht in Reyhanli weiter. Was sie in ihrer Heimat erlebt haben, werden sie jedoch nie vergessen.
Es war ein Leben in ständiger Angst. Tag und Nacht drohen Luftangriffe in den syrischen Städten. „Wenn die Flieger kamen, bekam Abdul-Rahman Angstzustände, er zitterte am ganzen Körper, hatte Schweißausbrüche“, berichtet Safa Mohammed. Sie empfängt ihre Gäste im Behandlungszimmer in ihrer Wohnung. Abdul-Rahman serviert Mokka. Sie hält ein Taschentuch in den Händen, die sie im Schoß zusammengefaltet hat. Fast täglich fallen die Fassbomben auf ihre Stadt, immer wieder laufen sie davon, von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt. Wie oft? Das weiß die 46-jährige Zahnärztin nicht mehr. Sie hat nicht mitgezählt. „Wir waren wochenlang nicht zu Hause“, erinnert sich Baraa, der heute in die zehnte Klasse geht. „Irgendwann kamen wir dann für zwei Monate zurück“, doch dann flammen die Angriffe wieder auf. Sie wollen hier raus. „Die Angst, die verletzten Menschen, der Tod – deshalb sind wir gegangen“, sagt die siebenfache Mutter. Drei ihrer Kinder besuchen heute die Schule für syrische Flüchtlingskinder der Stadt Aalen. Ihr Name: Neue Generation.
Kinder, für die keine Sonne scheint
Jahrelang leben die Kinder im Krieg, manche ihr halbes Leben lang, bevor sie flüchten. Was sie erlebt haben, versuchen sie in Bildern zu verarbeiten, die im Zeichenunterricht an der Aalener Schule entstehen. Viele davon zeigen brutale Gewalt: Verletzte und tote Menschen liegen auf den Straßen. Panzer, Häuser brennen und immer wieder Bomben und Luftangriffe. Wie das Bild von Abdul-Rahman: Links halten Kinder Luftballons in den Händen, Blumen, ein Baum, der Früchte trägt, die Sonne. Auf der anderen Seite: Ein Flugzeug wirft Bomben ab, aus zerstörten Häusern wabert dunkler Rauch in den blau-schwarzen Himmel, der Baum – kahl. Für die beiden Kinder auf diesem Bild scheint keine Sonne. „Ich will mit meinem Bild zeigen, dass die Kinder der Welt glücklich sind. Sie haben Häuser, Schulen, sie können wie Kinder leben. Und in Syrien gibt es Krieg, es gibt Verletzte, Tod und Trauer“, sagt er. Mit einem Spiegelstrich trennt der Neunjährige diese beiden Szenen seines Bildes. Es sind Episoden, die so nahe beieinander liegen wie die Realität, die man vom Hof der Schule aus sieht: Eine meterhohe Mauer schlängelt sich auf dem Hügel entlang, die die Grenze zwischen Syrien und der Türkei markiert – zwischen den Kindern der einen und der anderen Welt. Die nahezu komplett zerstörte syrische Stadt Aleppo liegt von Reyhanli gerade einmal 40 Kilometer entfernt.
Dort wohnte Ala Sherif noch bis vor drei Jahren, wo sie als kleines Mädchen grauenvolle Dinge erlebt hat. „Mein Onkel wurde bei den Luftangriffen getötet“, sagt sie und nestelt an ihrer Brille herum, während im Klassenzimmer ein paar Mitschüler zuhören, was sie erzählt. Ala ist gerade einmal fünf Jahre alt, als sie aus Aleppo entkommt. Sie war noch klein, vieles hat sie vergessen oder verdrängt. Bis auf den einen Tag: „Als die Bomben kamen, ist das Auto explodiert“, sagt die heute Achtjährige flüsterleise und deutet auf eine Skizze, die im Zeichenunterricht entstand. Sie zeigt die Kinder, die in Aleppo leben. Sie sind verletzt. Rechts ein Krankenwagen, ein zertrümmertes Haus. Erwachsene tragen Babys auf dem Arm, Menschen kümmern sich um Verwundete. Am Himmel kreisen die Düsenjäger, sie werfen Bomben, in der Mitte: das Zeichen für Atom. Für Ala bedeutet es Chemie.
„Vergessen können sie es nicht, aber verarbeiten“, sagt Ahmet Gazal, der den Schülern zwei Stunden wöchentlich Zeichenunterricht gibt und mit ihnen über die Erfahrungen spricht, die er nur zu gut nachempfinden kann. Er selbst ist aus Idlib geflohen, einer Stadt im Nordwesten Syriens. Was er von den Kindern hört, stimmt ihn traurig, „doch das zeige ich ihnen nicht“, sagt der 44-Jährige, „denn die Kinder sind uns anvertraut. Ich will ihnen die schönen Dinge zeigen.“Wenn die Kinder zeichnen, „sehen wir, was in ihnen vor sich geht“, ergänzt Mathematiklehrer Ibrahim Mohammed, der wie Baraa und AbdulRahman aus Hama stammt. Er kennt sie von früher. „Es sind gute Schüler“, charakterisiert er die beiden. Sie grinsen, rutschen ungeduldig auf der Schulbank hin und her. Sie sind heute ganz normale Kinder, sie lachen wieder, seit sie in Sicherheit sind. In ihnen jedoch gibt es Wunden – „unsichtbare Wunden“, wie eine Studie der Kinderrechtsorganisation Save the Children betitelt ist, die befürchtet, dass durch die Kriegsfolgen eine „ganze Generation syrischer Kinder dauerhaft geschädigt“bleiben könnte. Einen entscheidenden Beitrag für eine normale kindliche Entwicklung leisten Schulen. Sie vermitteln „Sicherheit, Stabilität und Routine“, heißt es in der Studie. Es ist die bislang größte Studie, die sich mit den Auswirkungen des sechs Jahre andauernden Krieges auf Kinder in Syrien beschäftigt.
Zeichnen, um Erlebnisse zu verarbeiten, sei eine „Therapiemethode, die auch wir in der Klinik einsetzen“, sagt Dr. Maike Preiß, Chefärztin der kinder- und jugendpsychiatrischen Abteilung an der Sankt-Anna-Virngrund-Klinik Ellwangen. Auf dem Gipfel der Flüchtlingskrise, als in der Ellwanger Landeserstaufnahmestelle viele Syrer einquartiert waren, behandelte ihre Abteilung zwischen 20 und 30 vor allem minderjährige, unbegleitete Flüchtlinge im Quartal. „Die Faktoren, die ein Kind psychisch krank werden lassen, sind überall auf der Welt gleich“, erklärt Preiß. Lebensereignisse, Hunger, Armut oder eine nicht intakte Familie seien beispielsweise dafür verantwortlich. Auch mangelnde Schulbildung wirke erheblich belastend. Was Krieg mit Kindern und Jugendlichen mache, lasse sich mit drei klinischen Diagnosen beschreiben. „Die akute Belastungsreaktion dauert mehrere Wochen und äußert sich durch Ängste, Unsicherheit oder Schlafstörungen“, beschreibt die Chefärztin. Bis zu zwei Jahre kämpften Kinder mit der sogenannten Anpassungsstörung, die durch ein plötzliches Ereignis „wie einen Terroranschlag oder einen Autounfall hervorgerufen werden kann“. Dauert der Zustand länger an, könne eine posttraumatische Belastungsstörung vorliegen. Die Folgen: Kinder hätten Einschlaf- und Durchschlafstörungen, seien schreckhaft, irritiert, bekämen im schlimmsten Fall Depressionen oder sogenannte Flashbacks – Ereignisse, die besonders belastend waren, kommen plötzlich wieder hoch.
Die Welt gerät aus den Fugen
„Wenn man die wertvollsten Dinge verloren hat“, Zahnärztin Safa Mohammed stockt. Sie weint, wischt sich die Tränen mit dem Taschentuch aus den Augen. Sie hatten alles in Hama. 15 Jahre lang arbeiten sie und ihr Mann im saudiarabischen Riad, ziehen zurück in die syrische Heimat, bauen sich eine Existenz auf, „ein romantisches Leben“, mit einem zweistöckigen Haus, einer Praxis, einem Auto. Drei Jahre lang leben sie ihr Leben. Dann gerät ihre Welt aus den Fugen. Der Bürgerkrieg beginnt, der in ihrer Heimat nach Angaben des syrischen Zentrums für politische Forschung mittlerweile rund 470 000 Menschen das Leben gekosttet hat. Safa Mohammed sitzt auf einem Stuhl im Behandlungszimmer und legt ihre Hände wieder in den Schoß. Neben ihr ein weißer Behandlungsstuhl mit einer Liegefläche aus grünem Kunstleder, Bohrer, Beleuchtung, Medikamente; Einrichtung, die sie von ihrem Ersparten gekauft hat. Alleine der Behandlungsstuhl – 5000 Dollar. Viele Witwen und Arme behandelt sie hier – Menschen, die wie sie viel verloren haben. „Es gibt Leute, die mir Geld für die Behandlung schulden“, sagt sie, „aber man will ihnen trotzdem helfen. Gott wird wissen, ob ich mein Geld irgendwann bekomme.“
Zig syrische Tagelöhner harren unter einer Brücke am Stadtrand Antakyas aus und warten darauf, dass jemand sie anheuert. Ob sie heute Arbeit bekommen, Geld verdienen? Sie wissen es nicht. Arbeit zu finden in einem Land mit einer Arbeitslosenquote von mehr als zehn Prozent, klingt schier aussichtslos. Teilweise wohnen drei Familien zusammen auf engstem Raum, fünf Kinder leben in einem Zimmer, weiß Ibrahim Mohammed. „Man kann nicht einfach hierher kommen. Man braucht Geld, um über die Runden zu kommen“, sagt Safa Mohammed, sonst hätten die Flüchtlinge hier kaum eine Chance. „Es ist wichtig, dass die Menschen zu ihrem eigenen Leben zurückkehren können“, meint Hatays Oberbürgermeister Lütfü Savas. Was einige auch bereits getan haben: Rund 31 000 Syrer kehrten nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerk
ks seit Jahresbeginn 2017 in imat zurück, die meisten von atten Zuflucht in der Türkei . Nur eine geringe Zahl davon allerdings aus der Provinz agt Savas. Eine Rückkehr ohne ? Kaum möglich. e Syrer bauen sich wie Zahnafa Mohammed eine Existenz Türkei auf, der Großteil der nge werde indes nach Syrien ehen, wenn der Krieg einmal st, glaubt Lehrer Ibrahim Mod. 500 000 Flüchtlinge leben in der Region Hatay, 125 000 n Reyhanli. Die Stadt selbst hat Einwohner. „So lange es in ihrer keine Sicherheit gibt, können t zurückkehren“, sagt Obermeister Savas und betont, wichtigen Beitrag die Stadt Aadem Bau der Schule für syriüchtlingskinder in der Region eleistet hat. „Die meisten Hilfsationen kommen und gehen, n Hilfsgüter. Die Schule jedoch Investition in Bildung. Sie ist eibendes. Dafür danke ich AaNamen der Menschlichkeit.“000 Euro kostete der Schulbau Partnerstadt, 100 000 Euro en die Bürger aus Aalen und mgebung, die Stadt steuerte Euro bei. Das Land Badenmberg, das für Hilfsprojekte aus Aalen Mittel zur Verfüellt, verdoppelte den Betrag. ordzeit entsteht eine Schule, h knapp einem halben Jahr Bauzeit 2016 eröffnet wird. Kurze Zeit später wird ein neues Projekt angeschoben: ein Sportplatz nebenan, ebenfalls finanziert mit Aalener Spenden. 1204 Kinder werden hier von 87 syrischen und türkischen Lehrern in 24 Klassen unterrichtet, die versuchen, Schüler für das türkische Bildungssystem fit zu machen. Das Wichtigste dabei: die Sprache. Unterrichtet wird deshalb je 15 Stunden auf Arabisch und Türkisch. „Solange wir ein Kind dazu bringen, zum Stift statt zur Waffe zu greifen, können wir viel bewegen. Ein Kind mit einer Waffe wird Gangster oder Terrorist. Ein Kind mit einem Stift wird zu einem hilfreichen Gemeinschaftsmitglied“, sagt Oberbürgermeister Savas.
Mit dem Stift wird Yaman Zeydan ein kleiner Künstler. „Er ist der beste Zeichner an unserer Schule“, sagt Lehrer Ibrahim Mohammed über den Jungen aus Idlib, der es sich auf einem Stuhl hinter der Schulbank bequem macht. Der Neunjährige mit rotem Hemd, Brille, einer großen Digitaluhr am Handgelenk versteckt seine Hände oft unter dem Tisch, als er von dem Tag erzählt, an dem die Panzer anrollen. „Wir waren bei meinen Onkeln zu Besuch. Um das Haus herum waren Panzer auf den Straßen.“Schwarzer Rauch quillt aus den Häusern, es brennt, ein Auto steht in Flammen, zwei Menschen liegen in ihrem Blut, ein Soldat mit seinem Gewehr, der Panzer, ein Hubschrauber und ein Jet, der Bomben abwirft. Das Bild zeigt die Szene, die Yaman versucht, in Worte zu fassen. Sie flüchten zuerst in ein anderes Dorf, die Angriffe nehmen zu, sie ziehen weiter zur Grenze, harren dort aus. Vielleicht beruhigt sich die Lage wieder? Vielleicht können sie zurück? Doch der Krieg geht weiter, sie setzen sich in die Türkei ab. Wie es heute in der Heimat aussieht, weiß er nicht. Nur eines: „Früher sind wir zum Geräusch der zwitschernden Vögel aufgewacht, heute zum Geräusch der abgeworfenen Geschosse.“
Ein Kanonenschuss donnert in Reyhanli, der Ramadan beginnt. Kinder werfen sich auf den Boden, „sie haben geschrien“, erinnert sich Ibrahim Mohammed an das Jahr 2013, in dem viele Flüchtlinge in Reyhanli ankamen. Die Angst steckt ihnen noch in den Knochen, weshalb man auf die traditionellen Kanonenschüsse zum Ramadan anfangs verzichtet. „Wir hatten Angst in der Heimat“, sagt Baraa, „sehr viel Angst“, ergänzt sein neunjähriger Bruder Abdul-Rahman, dem es heute besser geht. Dass die Kinder überhaupt wieder ein normales Leben führen können, ist mit ein Verdienst der Aalener Schule, wo die Lehrer versuchen, ihnen eine lebenswerte Kindheit zu geben. Sie lesen, rechnen, schreiben, malen oder pflanzen draußen im Garten Pinien- und Lorbeerbäume. Jeder Schüler ist für seinen Baum verantwortlich. „Wir versuchen auch, dadurch den Charakter zu formen“, erklärt Lehrer Ibrahim, denn unter dem jahrelangen Krieg habe ihr Benehmen gelitten. Viele Kinder seien Gesellschaft nicht mehr gewohnt gewesen.
Wie das Ende einer Kindheit
Luftangriffe brennen sich den Kindern ins Gedächtnis ein. Es gleicht einem täglichen Albtraum. „Sie haben mir am meisten Angst gemacht. Als die Flugzeuge kamen, waren wir gerade auf dem Rückweg von einem Kondolenzbesuch“, erinnert sich AbdulKarim al-Hussian. Er kniet auf dem Kunstrasen des Sportplatzes, nebenan stehen Abdul-Rahman und Yaman am Zaun, der den Sportplatz umgibt, am anderen Ende kicken zwei Jungen. Es ist heiß in Reyhanli, die Sonne brennt auf den Sportplatz. Abdul-Karim erzählt weiter: Ein Schrapnell trifft seine Tante ins Bein, mittlerweile „kann sie wieder laufen“. Doch die Ärzte im Krankenhaus konnten das Geschoss nicht aus ihrem Bein entfernen, sagt der Junge aus Homs, der wie viele seiner Mitschüler 2013 seine Heimat verlassen hat. „Ich denke immer wieder zurück und versuche, zu vergessen“, sagt der Zwölfjährige, der mit seinen Brüdern und den Eltern in einem vierstöckigen Haus lebt – bis die Flugzeuge erneut kommen. Das Haus liegt nun in Trümmern, nur das erste Stockwerk übersteht die Angriffe, die er in einem Bild zusammenfasst. Luftangriffe, aus zerstörten Häusern steigt Rauch in den Himmel, eine Schaukel, die nur noch an einem Seil baumelt, eine Rutsche. Schwarzweiß-Melancholie. Beinahe wie das Ende einer Kindheit.
Krieg, Konflikt, Auseinandersetzung – Begriffe, die Erwachsene verwenden, wenn sie sich darüber unterhalten, was in Syrien passiert. „Zerstörung“, sagt Abdul-Karim dazu, „Tod und Krieg“, ist es für Yaman. „Krieg und Zerstörung“, fällt AbdulRahman ein. Sein älterer Bruder Baraa bezeichnet es als „Unterdrückung“. Egal, wie es Kinder umschreiben, sie bündeln in ihren eigenen Worten, was sie erlebt haben. Nicht über Nacht, nicht in zwei Jahren werden sie es vergessen. „Doch wir hoffen, dass sie durch die Schule diese Dinge verarbeiten werden“, sagt ihr Lehrer Mohammed, der wie seine Schüler mit dem Schrecken aus Syrien davonkommt. „Mein Haus wurde beschossen und dem Erdboden gleichgemacht“, blickt der 33-Jährige zurück, der zwei Tage nach seiner Flucht in die Türkei beschließt, auch in der Fremde zu unterrichten. Lehrer schließen sich zusammen, Kinder werden zusammengetrommelt, in einem Gebäude beginnt der Unterricht für rund 800 Schüler. „Die ersten Jahre habe ich umsonst gearbeitet“, berichtet er. Als die Aalener Schule in Reyhanli eröffnet, bekommt er hier eine Stelle. Für Syrer sei Bildung sehr wichtig, sagt er. „Es ist ihnen wichtiger als Essen.“
Eine herzförmige, syrische Flagge. Sie blutet. „Syrien ist verletzt“, erklärt Ragad Kaddur aus Homs ihre Zeichnung und denkt an die Heimat, die sie vor zwei Jahren verlassen musste. An die Flugzeuge erinnert sich die aufgeweckte Achtjährige, deren Lieblingsfach heute Mathematik ist. Wenn sie Angst hatte, versteckte sich Ragad im Keller. Irgendwann halten sie und ihre Familie es nicht mehr aus. Sie flüchten, lassen die permanente, jahrelange Angst hinter sich, die alleine schon genügt, um daran zu zerbrechen. „Wenn Kinder die Flucht überstanden haben, ist das ein Hinweis darauf, dass sie psychisch stabil sind“, sagt Chefärztin Preiß. Mittlerweile leben viele der Kinder einige Jahre in Sicherheit, statt Angst haben sie in der Türkei Hoffnung, Wünsche und Träume: Ragad will Astronautin werden, „zum Mond fliegen, zu den Sternen“, die Erde von oben sehen. „Ich möchte in meinem alten Zimmer spielen“, wünscht sich Ala mit strahlenden Augen, wo ein Etagenbett stand, ein ganz großer Teddybär und eine Stoffente. Yaman will Arzt werden, Abdul-Karim Schreiner – wie sein Opa, „um das Haus wieder aufzubauen“. Genauso Abdul-Rahman. Auch er will Schreiner werden, „um unser Haus zu reparieren“, sagt der Junge, dem nur die Erinnerungen an sein Zuhause geblieben sind. Zeit, Erinnerungsstücke einzupacken, hatten sie nicht. Sie haben die Türe abgeschlossen und sind geflohen. „Wir haben nur den Schlüssel mitgenommen“, sagt seine Mutter Safa Mohammed. Ob sie zurück können? Ob jemals Frieden in ihrer Heimat einkehren wird? „Inscha’allah“, sagt sie – so Gott will.