Großbritannien braucht die EU
Je länger sich die Brexit-Verhandlungen hinziehen, desto unwirklicher kommt einem die ganze Prozedur vor. Premierministerin Theresa May, die angetreten war, einen guten Deal für ihr Land herauszuschlagen, sind inzwischen große Teile ihres Kabinetts abhandengekommen. Fast ist man erleichtert, wenn Chefunterhändler David Davis mit schöner Regelmäßigkeit in Brüssel aufschlägt. Bei so vielen Turbulenzen im Londoner Regierungsbezirk könnte auch sein Stuhl bald wackeln.
Die EU-Seite, die 27 europäischen Regierungen, zeigt sich hingegen weiterhin erstaunlich geschlossen und konsequent in ihrer Verhandlungsposition. Sämtliche britische Versuche, die Mitgliedsstaaten mit ihren unterschiedlichen Interessen zu spalten, scheiterten bislang, was die Europäer selbst wohl am meisten überrascht. Aber es zeigt sich eben, dass Großbritannien die EU weit mehr braucht, als es umgekehrt der Fall ist. Ein Beispiel: Nach dem Brexit muss London ungefähr 1000 Handelsabkommen neu abschließen, während für die Kontinentaleuropäer alles beim Alten bleibt.
Die Rückabwicklung einer EUMitgliedschaft erweist sich in der Praxis als so gigantische Aufgabe, dass es potenzielle Nachahmer gründlich abschrecken dürfte. In Brüssel glauben viele, dass nicht einmal die Briten die Prozedur bis zum bitteren Ende durchhalten werden. Einen „Rexit“sieht sogar Chefunterhändler Michel Barnier als realistische Option. politik@schwaebische.de