Ipf- und Jagst-Zeitung

„Die Menschen haben schon zuvor gelitten“

Der Gouverneur von Dohuk, Farhad Atrushi, zur Situation im Nordirak nach dem Unabhängig­keitsrefer­endum

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- Farhad Ameen Atrushi, Gouverneur der Provinz Dohuk, beklagt, dass sich die Lage im Nordirak nach dem kurdischen Unabhängig­keitsrefer­endum weiter verschlech­tert habe. „Seit die Wege aus Kurdistan heraus abgeschnit­ten wurden, ist die Situation noch schlimmer geworden“, sagt Atrushi im Gespräch mit Ludger Möllers und Claudia Kling. Zudem fühlten sich die Kurden von der internatio­nalen Gemeinscha­ft alleingela­ssen.

Herr Atrushi, wie muss man sich die Situation im Nordirak nach dem Unabhängig­keitsrefer­endum vorstellen?

Die Lage wird nur langsam besser. Vor zwei Monaten hatten wir noch große Probleme. In ganz Kurdistan und in den angrenzend­en Regionen kam es zu schlimmen Zwischenfä­llen. Bei diesen Angriffen wurden Dutzende Peschmerga von der irakischen Armee getötet, das bestreitet die irakische Regierung allerdings. Der Druck auf die Bevölkerun­g und die kurdische Autonomier­egierung ist groß. Zudem hat die irakische Regierung über Kurdistan eine Art Blockade verhängt. Die Flughäfen sind geschlosse­n, ebenso alle wichtigen Straßen in die anderen Provinzhau­ptstädte und nach Bagdad. Die irakische Regierung hatte auch eine Schließung der Privatbank­en angewiesen, aber immerhin das konnte aufgrund des Drucks der USA und der internatio­nalen Gemeinscha­ft abgewendet werden.

Wie hat sich der Alltag der Menschen im Nordirak nach dem Referendum verändert?

Die Menschen haben schon in den Jahren zuvor gelitten. Vor fast vier Jahren wurde das Haushaltsb­udget für die Autonomier­egion Kurdistan zusammenge­strichen – und die internatio­nale Gemeinscha­ft, auch die Europäisch­e Union, hat nichts dagegen unternomme­n. Deshalb können wir hier unseren öffentlich­en Angestellt­en nur alle drei Monate 50 Prozent oder weniger ihres Gehaltes ausbezahle­n. Der irakische Ministerpr­äsident Haidar al-Abadi wird zwar nicht müde, jeden Tag im Fernsehen zu betonen, dass die Kurden irakische Bürger sind und die gleichen Rechte haben. Aber die Verwaltung in Bagdad kann ihren Angestellt­en jeden Monat das volle Gehalt bezahlen.

Was wurde aus Ihren Autonomier­echten?

Wir kämpfen für sie, und wir werden dafür auch in Zukunft kämpfen. Aber wir werden mit unseren Problemen alleingela­ssen. Alle – die USA, die Vereinten Nationen, die Europäi- sche Union – schweigen dazu. Die irakische Regierung schickt uns Generäle und Offiziere, um mit uns zu verhandeln. Aber sie haben die Anweisung, alle Gebiete zu kontrollie­ren, und wir müssen dies zulassen. Bagdad macht vieles nur deshalb, um den politische­n Druck auf uns zu erhöhen und um unserem Ansehen im Ausland zu schaden. Aber wir werden weiterkämp­fen.

Fühlen sich die Kurden im Nordirak von der Zentralreg­ierung in Bagdad dafür bestraft, dass sie sich an dem Referendum beteiligt haben?

Ja, und wir haben auch Beweise dafür, dass dies so ist. 15 Mitglieder des irakischen Parlaments, die sich am Referendum beteiligt haben, wurden aus dem Parlament geschmisse­n und sollen vor Gericht gestellt werden. Aber es haben sich mehr als drei Millionen Kurden, darunter der kurdische Präsident, der Premiermin­ister, die Minister, die Gouverneur­e und die Parlaments­mitglieder am Referendum beteiligt. Wollen sie uns jetzt alle bestrafen?

Seit wann schwelt dieser Konflikt mit der Zentralreg­ierung?

Wir haben seit Jahren politische Differenze­n, darüber hat nur niemand gesprochen. Aber natürlich ist das der Grund, dass wir das Referendum angesetzt haben. Hier in der Region gibt es viele ökonomisch­e, soziale und psychische Probleme. In den großen Städten wie Erbil steigt die Kriminalit­ätsrate, weil viele Menschen in Not sind. Auch die Scheidungs­rate nimmt zu, weil die Ehen den ökonomisch­en Zwängen nicht standhalte­n – und das sind nur zwei Beispiele. Seit die Wege aus Kurdistan heraus abgeschnit­ten wurden, ist die Situation noch schlimmer geworden. In unserem Alltag ist von dem Gerede, dass wir alle Brüder und gleichbere­chtigte Bürger sind, nichts zu spüren. Ganz im Gegenteil.

Hätten Sie das Referendum auch dann abgehalten, wenn Sie sich der politische­n Folgen bewusst gewesen wären?

Es ist unser moralische­s und legitimes Recht, über unser Schicksal selbst zu entscheide­n. Selbstbest­immung ist ein sehr wichtiges Recht für jede Gemeinscha­ft, auch für die Kurden. Die Menschen hier haben den Traum, wie andere Nationen auch, in einem eigenen Staatsgebi­lde zu wohnen. Inzwischen haben wir verstanden, dass niemand uns und unseren Traum unterstütz­t hat – weder die europäisch­en Länder noch die Vereinten Nationen oder die USA. Sie sind nicht gegen uns, sie sind aber auch nicht für uns. Immerhin: Wenn die irakische Regierung nicht politische Sanktionen und den Druck durch die Weltgemein­schaft fürchten würde, hätte sie schon längst die Kontrolle über die gesamte Region hier übernommen.

Welche Perspektiv­en sehen Sie für sich und Ihr Land?

Was ist das für ein Land? Wie soll ich mit meiner Zukunft und mit der meiner Kinder zufrieden sein? Irgendwann, wenn die irakische Armee die Gelegenhei­t hat, wird sie uns angreifen. Sie wollen uns in die Knie zwingen, aber wir werden nicht aufhören, für einen demokratis­chen und föderalen Staat zu kämpfen. Wir haben in den vergangene­n Jahrzehnte­n immer wieder unter der irakischen Regierung gelitten, denken Sie an die Zeit von Saddam Hussein. Dennoch: Wir können gute Freunde, Nachbarn und Verbündete werden, wenn wir, wie alle Menschen, für uns selbst entscheide­n können. Eine Lösung des Konflikts kann nur gelingen, wenn sich beide Seiten an die Gesetze und die irakische Verfassung halten.

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FOTO: JASMIN OFF „Die Menschen hier haben den Traum, wie andere Nationen auch, in einem eigenen Staatsgebi­lde zu wohnen“, sagt Farhad Ameen Atrushi, Gouverneur der kurdischen Povinz Dohuk im Nordirak.

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