Manche Frauen haben nirgends eine Chance
LEA-Psychologe Reinhard Sellmann berichtet von seinen Gesprächen mit geflüchteten Frauen
- Fast 70 Prozent der nach Deutschland geflüchteten Menschen sind Männer. Frauen gehen viel seltener das Wagnis einer Flucht ein und werden oft Opfer seelischer und körperlicher Gewalt. Diplom-Psychologe Reinhard Sellmann, der seit Januar 2016 LEA-Bewohner berät und tiefenpsychologisch betreut, berichtete bei einem Vortrag über seine Gespräche mit geflüchteten Frauen.
Zu Beginn wurde die WDR-Dokumentation „Der Traum von Sicherheit – Was Frauen auf der Flucht erleiden“gezeigt. „Ihre Schicksale berühren noch mehr, wenn man den Frauen gegenübersitzt“, sagte Reinhard Sellmann. Viele hätten in ihrer Heimat Gewalt erfahren, auf der Flucht und in Flüchtlingsunterkünften. Viele seien depressiv und selbstmordgefährdet. Das Gespräch mit ihm könne ein erster Schritt zur Stabilisierung sein: „Körperliche und seelische Folter haben sich in ihre Seelen eingegraben. Reden hilft.“
Distanz hilft nicht. Um Kontakt aufzubauen, fasse er sich an seinen ergrauten Bart: seht her, ich bin alt, ich habe Lebenserfahrung, nenne seinen Namen und frage nach dem Namen seines Gegenübers: „Und sie schweigt. Und ich warte. Ich spüre ihre Angst und meine Angst vor dem, was sie zu erzählen hat. Aber sie muss wissen: Ich bin da. Ich halte das aus.“
Auch die Frauen seien stark. Sonst hätten sie es nicht bis nach Deutschland geschafft. Gelinge es ihm, ihre Ressourcen zu stärken, gingen sie besser vorbereitet in die Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.
Rund 84 Prozent der aus Afrika geflüchteten Frauen hätten keine Bleibeperspektive. Auch Frauen vom Balkan und Roma-Angehörige in der LEA dürften nicht vergessen werden: „Sie haben nirgends eine Chance, weder in ihrer Heimat noch bei uns.“Eine gemeinsame Tasse Tee führe nach aufwühlenden Gesprächen zurück ins Hier und Jetzt.
In der LEA gibt es geschützte Räume
Auch Männer, das weiß Reinhard Sellmann, erfahren auf der Flucht Gewalt. „Doch sie ist anders geartet. Frauen sind besonders schutzbedürftig, weil sie ausgelieferter sind.“Froh ist er über geschützte Räume in der LEA, die Männer nicht betreten dürfen, auch nicht männliches Sicherheitspersonal. Seit Juli hat er eine Kollegin, die ihn entlastet.
Die Arbeit in der LEA habe ihn verändert, sagt Reinhard Sellmann. Ernster sei er geworden, „seelisch schwerer“. Lange Spaziergänge mit seinem Hund würden ihm helfen: „Wenn Sie jemand im Wald singen hören, kann ich das sein. Gefühle müssen raus.“
Der Vortrag fand im Rahmen des bundesweiten Aktionstags „Nein zu Gewalt an Frauen“und zur Finissage der Fotoausstellung „Menschen auf der Flucht“der Friedensdekade statt. Ins Rathaus eingeladen hatten Amnesty International und Frauenbeauftragte Nicole Bühler.