Ipf- und Jagst-Zeitung

Der märchenhaf­te Aufstieg der Marmeladen­oma

Wie eine 86-Jährige mit ihrem 15 Jahre alten Enkel zum gefeierten Youtube-Star wurde

- Von Philipp Hedemann

Eigentlich ist es ein Wunder, dass ich Dinosaurie­r da überhaupt mitmache. Die Märchenoma über ihre Internet-Karriere

Es war einmal ein braver Bube, der filmte seine liebe Großmutter beim Vorlesen.“So könnte das Märchen von der Marmeladen­oma beginnen. Doch die Geschichte von Helga Sofie Josefa, alias „Die Marmeladen­oma“und ihrem Enkel ist kein Märchen, sondern ein wahrer Internet-Hype. Jeden Samstagabe­nd streamt der 15-jährige Janik die Märchenstu­nde seiner 86 Jahre alte Großmutter im Internet. Mittlerwei­le hat die Oma fast 200 000 Fans und ist ein gefeierter YouTube-Star.

Als Janik den großen Plenarsaal des Berliner Abgeordnet­enhauses betritt, wirkt er wie jemand, der nicht im Weg stehen möchte. Dabei sind viele der Gäste nur wegen ihm und seiner Oma hier. Gleich wird den beiden vom Deutschen Zentrum für Märchenkul­tur die Auszeichnu­ng Goldene Erbse verliehen. Neben Janik stützt seine Oma Helga sich auf ihren Rollator. Auch wenn ihr das Gehen schwerfäll­t, wirkt sie so entspannt, als hätte sie ihr ganzes langes Leben vor großem Publikum verbracht.

Dabei hat ihr Enkel sie erst vor wenigen Monaten zum Star gemacht. Früher besuchte Janik jedes Wochenende seine Oma in Ettlingen, einem Städtchen, das südlich von Karlsruhe im Nordschwar­zwald liegt. Die beiden spielten zusammen mit Lego, und bevor er zu Bett ging, las seine Oma ihm noch ein Märchen vor. Doch irgendwann war der Enkel dem Lego- und Märchen-Alter entwachsen und installier­te sich bei seiner Oma einen Computer. Von nun an verbrachte er immer mehr Zeit vor dem Bildschirm und seine Oma mehr Zeit mit ihren Büchern. Weil er jedoch viel lieber wieder etwas mit anstatt nur neben ihr machen wollte, überlegte Janik sich, wie man sein Interesse für Computer und Omas Leidenscha­ft für Geschichte­n unter einen Hut bringen könnte. Die Idee des Märchen-Livestream­s war geboren. Weil seine Oma die beste Marmelade der Welt kocht, nannte Janik das Format „Die Marmeladen­oma.“

„Am Anfang waren wir eine schnuckeli­ge Sendung mit ein paar treuen Fans, aber dann kam Gronkh“, berichtet die Marmeladen­oma. Es gibt wohl nur wenige 86-Jährige, die wissen, wer oder was Gronkh ist. Helga hingegen weiß, dass „der liebe Gronkh“einer der erfolgreic­hsten deutschen YouTuber mit fast 4,7 Millionen Abonnenten ist. Und dieser Gronkh landete auf Helgas Live-Stream, verliebte sich in die Marmeladen­oma und empfahl seinen Fans ihre Märchenstu­nde. Kurz darauf brach der Stream unter dem Ansturm zusammen. Mittlerwei­le läuft die Liveübertr­agung wieder ruckelfrei, die Videos wurden bislang mehr als acht Millionen Mal angesehen, auf YouTube haben die Oma und ihr Enkel, die zum Schutz ihrer Privatsphä­re ihre Nachnamen nicht preisgeben wollen, mittlerwei­le fast 190 000 Abonnenten.

Fast drei Viertel von ihnen sind männlich, über 60 Prozent sind zwischen 18 und 34 Jahre alt und alle flüchten sich am Samstagabe­nd gerne zwei Stunden in eine heile Welt. Dann liest die Marmeladen­oma teilweise recht holprig vier Märchen vor, beantworte­t Fragen ihrer Fans und erzählt, wie sie vor 82 Jahren Weihnachte­n gefeiert hat oder eine andere Geschichte aus ihrer Kindheit. Dass ein böser Wolf mit Wackerstei­nen gestopft wird oder ein geküsster Frosch sich in einen Prinzen verwandelt, ist das Aufregends­te, was in diesen zwei Stunden passiert. Wohl kaum jemand bedient die Sehnsucht nach Ruhe, Geborgenhe­it, Entschleun­igung, heiler Welt und Eskapismus besser als die Marmeladen­oma.

„Eigentlich ist es ein Wunder, dass ich Dinosaurie­r da überhaupt mitmache. Ich hatte früher eine regelrecht­e Abneigung gegen das Internet. Es hat mich gestört, dass die jungen Leute ständig am Computer sitzen und auf ihre Handys starren“, sagt die Oma, die als junge Frau noch auf Feuer gekocht hat, bis heute keinen Geschirrsp­üler besitzt („Brauche ich nicht.“), ihr Handy („Also so ein normales, nicht so ein Smartphone.“) ausgeschal­tet in einer Schublade aufbewahrt und Musik am liebsten vom Plattenspi­eler hört. Nur das von Janik eingericht­ete iPad ist mittlerwei­le zum unverzicht­baren Arbeitsmit­tel geworden.

„Janik und ich sind ein tolles Team“, sagt die Oma, die ihrem Enkel vor jeder Livesendun­g zwei Zwiebelwur­stbrötchen schmiert und ihn so gütig und liebevoll anschaut, wie nur Omas es können. Seinetwege­n wagt die Seniorin sich jeden Tag ein bisschen mehr von ihrer Märchenins­el ins digitale Neuland vor und genießt ihren neuen Ruhm.

Wird die bescheiden­e Großmutter auf ihre alten Tage so noch zu einer digitalen Rampensau? „Nein! Ich bin überhaupt nicht geltungssü­chtig, höchstens sendungssü­chtig. Ich wollte mit meinen Geschichte­n schon immer mehr Liebe in die Welt bringen. Und ich bin sehr dankbar, dass dank Janik jetzt mehr Menschen meine Botschaft hören können“, so die Oma.

86 Jahre Leben, ein Weltkrieg, vier Kinder, vier Enkel und fünf Urenkel haben in Helgas Gesicht tiefe Falten hinterlass­en. Doch in ihren Augen blitzt noch die kindliche Neugier eines kleinen Mädchens auf. Ihre Lebenserfa­hrung und Lebensfreu­de gibt sie jetzt an ihre Anhänger weiter.

Fast jeden Tag zwischen acht Uhr abends und Mitternach­t beantworte­t sie handschrif­tlich Fanpost. Für viele ihrer Zuschauer ist sie eine Art Ersatz-Oma geworden. Oft fragen die Schreiber sie nach Rat. Einer lebensmüde­n Frau haben die Briefe der Märchen-Oma neuen Lebensmut geschenkt und sie so gerettet.

Doch wer sich im Internet präsentier­t, der wird nicht nur geliked, sondern manchmal auch von „Hatern“angegriffe­n. „Neider gibt es überall. Am besten ist es, sie einfach zu ignorieren“, meint Janik und seine Oma nickt zustimmend.

Der Enkel und die Oma scheinen einen Generation­envertrag geschlosse­n zu haben, der ohne Worte auskommt. Schon wenn die alte Dame daran denkt, sich aus dem tiefen Sofa zu erheben, steht Janik neben ihr, um ihr zu helfen. Und wenn ihr zurückhalt­ender Enkel bei Interviews mal wieder um eine Antwort verlegen ist, springt die ungeduldig­e Oma schnell in die Bresche.

Ungeduldig ist sie vor allem mit sich selbst. Nach einem Sturz fällt ihr das Gehen schwer, eigentlich sollte sie jetzt in einer Schmerzkli­nik sein. „Aber“, so die Großmutter, „ich bin einfach abgehauen, um zur Preisverle­ihung zu fahren. Das ist die beste Medizin.“

Neider gibt es überall. Am besten ist es, sie einfach zu ignorieren. Janik über gehässige Kommentare zum Märchen-Streaming

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FOTO: CREATED MEDIA Oma liest Märchen vor und Hunderttau­sende Fans im Netz hören zu: Das ist das Erfolgskon­zept von Janik und seiner Großmutter.

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