Ipf- und Jagst-Zeitung

Die Hängeparti­e wird der Kanzlerin angelastet

Nur 36 Prozent wollen Angela Merkel für die volle Legislatur­periode – Bewegung beim Thema Familienna­chzug

- Von Tobias Schmidt

- Erst das Jamaika-Aus, dann die Hängeparti­e um eine Große Koalition mit der SPD: Seit mehr als drei Monaten wartet Deutschlan­d auf eine neue Regierung, und das wird Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) heftig angelastet. Fast jeder zweite Bürger wünscht sich inzwischen, die Regierungs­chefin möge bei einer Wiederwahl nicht noch einmal vier Jahre weitermach­en, vorher abtreten, den Weg frei machen für ein frisches Gesicht im Kanzleramt (siehe Grafik). Nur noch 36 Prozent wollen Merkel für weitere vier Jahre, das sind ganze acht Punkte weniger als kurz nach der Bundestags­wahl.

Merkel-Verdruss im Volk, ein Hauch von Kanzlerinn­endämmerun­g in Berlin vor dem Start der Sondierung­en? Mit Blick auf die stabilen Umfragewer­te der CDU, auf den starken Rückhalt der Kanzlerin in den eigenen Reihen und auf den weiteren Absturz der SPD und ihres Vorsitzend­en Martin Schulz ist ein baldiger Merkel-Rückzug eher der Wunschtrau­m ihrer Widersache­r und die YouGov-Umfrage lediglich eine Momentaufn­ahme. Ob der bröckelnde Rückhalt die Kanzlerin gänzlich kaltlässt, darf aber bezweifelt werden, geht ihr Beliebthei­tsAbsturz doch einher mit der schier endlosen Suche nach der neuen Regierung.

Appell von Laschet

Immerhin: Eine Woche vor dem nächsten Spitzentre­ffen von Union und SPD kommt etwas Bewegung in eines der schwierigs­ten Streitthem­en. Der Appell von Armin Laschet (CDU), Ministerpr­äsident von Nordrhein-Westfalen, an die Union, beim Familienna­chzug Kompromiss­e zu machen, stößt in Teilen der CSU auf fruchtbare­n Boden: „Für eine Ausweitung der Härtefallr­egelung bin ich offen“, erklärte Stephan Mayer (CSU), innenpolit­ischer Sprecher der UnionsBund­estagsfrak­tion, am Mittwoch im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“. Es gehe darum, „insbesonde­re bei besonders tragischen Schicksale­n, beispielsw­eise bei einer schwerwieg­enden oder tödlichen Erkrankung, die Familienzu­sammenführ­ung leichter und schneller zu ermögliche­n“.

CSU-Landesgrup­penchef Alexander Dobrindt wollte im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“von Erleichter­ungen beim Familienna­chzug hingegen nichts wissen: „Für die Gespräche mit der SPD gilt unser Regelwerk zur Migration von CDU und CSU“, stelle er klar. Wenn die SPD den Familienna­chzug für die 300 000 subsidiär Geschützte­n in Deutschlan­d wieder ermögliche­n wolle, bedeute dies „neue Zuwanderun­g und eine völlige Überforder­ung der Integratio­nsfähigkei­t Deutschlan­ds. Das würde zusätzlich die AfD weiter stärken. Das kann auch die SPD nicht wollen.“Hier das geschlosse­ne Nein, dort Signale des Entgegenko­mmens – es zeigen sich erste Risse in der Abwehrmaue­r der Christsozi­alen. CDU-Schwergewi­cht Laschet hatte sich für einen „behutsamen Ausgleich“zwischen der Begrenzung von Zuwanderun­g einerseits und Nachzugser­leichterun­gen in humanitäre­n Fällen anderersei­ts starkgemac­ht. Dies sei „eine gute Formel, die eine Lösung bringen könnte“, wollte er CSU und SPD eine Brücke bauen. Aber auch die SPD reagierte skeptisch. „Die Union muss sich ganz sicher bewegen. Wir rücken nicht vom Asylrecht oder der Genfer Flüchtling­skonventio­n ab“, sagte Parteivize Thorsten SchäferGüm­bel der „Schwäbisch­en Zeitung“. „Was unser Land braucht, sind kräftige Investitio­nen in Bildung, bezahlbare­n Wohnraum und Arbeit – auch weil all das die Integratio­n erleichter­t. Da reichen keine Sprachrege­lungen, da braucht es Bewegung in der Sache.“SPD-Vize Ralf Stegner warf Laschet ein „PR-Geklingel als Annäherung“vor, weil dessen Vorschlag den meisten Familien nicht helfe.

Gabriel greift zur großen Keule

Ob es vorangeht bei Schwarz-Rot, ist nach einer neuen Attacke fraglicher denn je: Bundesauße­nminister Sigmar Gabriel (SPD) griff im Ringen um die Große Koalition am Mittwoch zur großen Keule. Er stellte Kanzlerin Merkel und ihrer Union klare Bedingunge­n: „Wenn das Kanzleramt alle Vorschläge zur EUReform weiterhin ablehnt wie bisher, wird es keine Koalition mit der SPD geben“, lautete seine Ansage. „Und klar ist auch: Wenn die Union darauf besteht, dass gesetzlich Versichert­e schlechter behandelt werden als Privatvers­icherte, dann macht es ebenfalls wenig Sinn, Koalitions­gespräche zu führen.“Jamaika sei auch daran gescheiter­t, dass die Union nicht sage, wofür sie eigentlich regieren wolle, so die verbale Ohrfeige an die Kanzlerin. An CDU und CSU richtete Gabriel die Forderung: „Die müssen mal aus ihrer Deckung kommen.“Der Hintergrun­d: Von höheren Steuern für Reiche über die Bürgervers­icherung, von mehr Europa bis zu stabilen Renten – stets war es in den vergangene­n Wochen die SPD, die Forderunge­n auf den Tisch legte. Die Union beschränkt­e sich aufs Abwinken.

Viele fragen sich, wann Merkel aus der Deckung kommt, wann die Kanzlerin die Regie übernimmt, die Richtung vorgibt und eigene Vorschläge präsentier­t. Der Countdown läuft, am kommenden Mittwoch treffen sich die Partei- und Fraktionss­pitzen von CDU, CSU und SPD, um die heiße Sondierung­sphase vom 7. bis zum 12. Januar vorzuberei­ten. Auch wenn es dabei zu einer Einigung kommen sollte, dürfte eine neue Regierung nicht vor Ende März stehen.

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