Pferde verleihen Gleichgewicht
Wolfgang Fürst arbeitet als selbstständiger Diplom-Reittherapeut
(an) - Seit mehr als 20 Jahren arbeitet Wolfgang Fürst als selbstständiger Diplom-Reittherapeut. Pferde verleihen Gleichgewicht, erklärt Fürst, der auf seinem Islandpferdehof Sörli in Elchingen seine Therapien anbietet.
- Ganz friedlich steht Snodri da. Eine üppige Mähne hat der Isländer, dunkle Augen und warmes, weiches Fell. Kinder tun viel, um ihn füttern, streicheln und reiten zu dürfen, weiß Wolfgang Fürst. Er wiederum tut viel, damit Snodri und die anderen Isländer vom Sörlihof zur Brücke werden zwischen ihm und denen, die zu ihm kommen. Damit er ihnen helfen kann. Seit mehr als 20 Jahren arbeitet Wolfgang Fürst als selbstständiger Diplom-Reittherapeut.
„Snodri ist ein Allrounder“, lobt Fürst. Die Kinder nennen ihn oft „Kleiner Donner“, weil er ebenso schwarz-weiß gescheckt ist wie das Pferd von Yakari, des Indianerjungen aus der gleichnamigen Zeichentrickserie. „Er ist total verlässlich“, freut sich sein Besitzer, der weder ein Indianer noch ein Junge, sondern 55 Jahre und gebürtiger Ellwanger ist. „Snodri arbeitet mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen sowohl im heilpädagogischen Reiten wie in der Hippotherapie und im Freizeitsport“, erklärt Fürst. Womit er einen großen Teil des Angebots auf seinem Islandpferdehof Sörli im Neresheimer Teilort Elchingen umrissen hat.
Es ist eine besondere Aufgabe, die Fürst seinen derzeit sechs Pferden zugedacht hat. Isländer bevorzugt er dafür vor allem wegen ihres Erscheinungsbilds und ihrer Größe: „Es sind schöne, knuffige Pferde.“Er sucht sich Tiere mit einem Stockmaß von nicht mehr als 1,36 Metern aus, denn „ich muss am Menschen, der darauf sitzt, arbeiten können“. Außerdem brauchen Isländer nicht viel: „Es reicht ein Unterstand.“Die Offenhaltung in einer Herde mache die Pferde ausgeglichen, „weil ein jedes weiß, wo sein Platz ist“, so Fürst.
Das sei eine wichtige Voraussetzung für die Arbeit in der Therapie, aber nicht die einzige. Es komme auf das einzelne Tier an. Fürst sucht lange und fährt weit, um ein geeignetes zu finden, und bildet es sorgsam aus. Absolut zuverlässig müssen seine Isländer sein „zum Schutz für Pferd und Mensch“. So wie Tilly, 1995 Fürsts erstes Pferd, das erst vor Kurzem in hohem Alter gestorben ist. So wie Irpa und Snara, beide 23 Jahre alt, die mit dem Flugzeug direkt aus Island eingeflogen wurden. Wie die 20-jährige Mandla, der zwölfjährige Snodri, der neunjährige Gambri und die mit acht Jahren Jüngste, Mijöl, die „Schneeflocke“. Zusammen mit ihnen lebt auf dem Bauernhof in der Engen Gasse noch ein richtiger kleiner Streichelzoo: Schafe, Ziegen, Kaninchen, Katzen und Lilly, die Hündin.
Die sechs Pferde tragen Tag für Tag die unterschiedlichsten Menschen. Ein Kind mit Down-Syndrom, einen Erwachsenen mit multipler Sklerose oder eine Jugendliche mit Magersucht. „Über die Jahre hat sich ein großes Netzwerk entwickelt zu Ergotherapeuten, Krankengymnasten, Ärzten, Frühförderstellen, Kindergärten für Erziehungshilfe oder Schulen“, erzählt Fürst. „Die Leute wissen: Die Reittherapie ist eine Möglichkeit.“Auf dem Pferd fühlt sich groß, wer immer klein gemacht wurde. Wird beweglich, wer im Rollstuhl sitzt. Wachsen Selbstwertgefühl, Frustrationstoleranz und Konfliktfähigkeit, stellt der Reittherapeut fest und bedauert, dass die Krankenkassen sich seit einiger Zeit aus der Finanzierung dieser alternativen Heilmethode zurückgezogen haben – der Kostendruck. Von ihrer Wirksamkeit ist er überzeugt: „Sonst kämen nicht so viele Menschen zu uns.“
Anfangs waren es vor allem geistig und körperlich Behinderte, wie seit vielen Jahren die heute 20-jährige Melanie Krumpel. „Hier kommt sie ins Gleichgewicht. Sie ist viel offener, umgänglicher und hat mehr Feingefühl. Auch nach 20 Jahren lernt sie immer noch etwas dazu“, freut sich ihr Vater.
Doch seit einem Jahrzehnt beobachtet Fürst eine Verschiebung. Der Anteil seiner Klienten mit geistiger Behinderung ist von rund 70 auf 40 Prozent gesunken, der mit Verhaltensauffälligkeiten dafür von rund 20 auf 60 Prozent gestiegen. „Ich glaube, das liegt zum einen an einer Gesetzesänderung, die die Abtreibung eines behinderten Kindes erleichtert, und zum anderen daran, dass die Zahl verhaltensauffälliger Kinder durch Trennungen und wirtschaftliche Schwierigkeiten gestiegen ist“, sagt Fürst. Außerdem erlebten Kinder heute größeren Leistungsdruck in Schule und Gesellschaft, auch durch die Eltern.
Die Folgen können ganz unterschiedlich sein. „Ich hatte einmal einen zwölfjährigen Jungen, der konnte nicht mehr in normaler Lautstärke reden. Er hat immer gebrüllt“, nennt Fürst ein Beispiel. Im heilpädagogischen Reiten schaffte er es sich zu zügeln. Denn als er auch im Stall so schrie, erschraken die Pferde, und vertan war die Chance aufzusteigen. „Pferde reagieren auf unser Verhalten auf ehrliche Art, sie spiegeln uns im Negativen wie im Positiven“, erläutert Fürst. „Aber sie strafen nicht, das Kind darf Fehler machen und ist trotzdem eingeladen, den nächsten Schritt zu tun.“Dem Zwölfjährigen konnte Fürst dank der Isländer begreiflich machen, dass es besser sein kann nicht zu schreien. ann stünde einem Ritt nichts mehr im Weg.
Das Erlebnis hoch zu Ross führt immer ins Gelände, bei Wind und Wetter, mit Tageslicht oder ohne. „Wir sind in Elchingen schon bekannt, und aus so manchem Fenster tönt ein ‚Hallo‘, wenn wir vorbeireiten“, schmunzelt der Therapeut. Ein geistig behindertes Kind, das ansonsten seine Umgebung ausblendet, stimuliert der kräftig wehende Wind, ein körperlich behindertes profitiert vom rhythmischen Gang, der dem des Menschen so ähnelt. „Ab dem Moment, in dem ein Mensch auf dem Pferd sitzt, geht eine große, große Welt auf, was die Krankengymnastik anbelangt“, so Fürst. Ein Mann mit multipler Sklerose beansprucht auf Snodris Rücken genau die Muskelpartien, die ihm beim selbstständigen Gehen nicht mehr gehorchen wollen. Ein traumatisierter Jugendlicher verspürt zum ersten Mal wieder so etwas wie Glück. Einem Mädchen mit Magersucht verschafft Fürst während des Reitens „einen Korridor von einer Stunde, in dem sie einmal nicht ans Essen denkt“und nutzt diese Zeit, um mit ihr Ideen zu entwickeln. Denn Fürst ist nicht nur Reittherapeut, sondern zudem systemischer Paar- und Familientherapeut. Entsprechend nutzt er für seine therapeutische Arbeit nicht nur die Zeit auf, sondern auch die am Pferd. Begrüßung, das Tier aus dem Stall holen, putzen und nach dem Ausflug versorgen – alles Gelegenheiten, Strukturen und Regeln einzuüben. Und Kompromisse einzugehen, wo vorher vielleicht Sturheit war. „So kann man einem Jugendlichen übers Pferd erklären, was er im Alltag mit seinen Eltern vielleicht auch probieren könnte“, sagt Fürst. Snodri ist es recht. Hauptsache, am Ende kriegt er seine Möhre.
„Pferde spiegeln uns im Negativen wie im Positiven“, sagt Wolfgang Fürst „Wir sind in Elchingen schon bekannt“, erzählt der Therapeut
Der Förderverein „Das blaue Pferd - Tillys Freunde“wurde im März 2017 gegründet und unterstützt Kinder und Erwachsene in Krisensituationen, die sich sonst die tiergestützte Therapie auf dem Sörlihof nicht leisten könnten. Der Förderverein sorgt mit Unterstützung durch Stiftungen dafür, dass derzeit elf Kinder zweimal wöchentlich versorgt werden, erläutert die Vorsitzende Bianca Werner. Vera Wolf, die sich ums Tierwohl kümmert, erklärt den Namen „Das „blaue Pferd“: Er stehe symbolisch für Mut, Ehrlichkeit, Freiheit und Anderssein.