Das Unerklärliche
Ein Junge wird von seinen Eltern vergewaltigt und an andere Männer verkauft – Im Freiburger Missbrauchsfall geraten die Ermittler an ihre Grenzen
(lsw/afp) - Das Grauen steckt nach vier Monaten Ermittlungsarbeit in zehn Aktenordnern. In den Büros der Freiburger Kriminalpolizei haben Beamte der Ermittlungsgruppe „Kamera“Spuren aufgenommen und Beweise gesichert. Es ist ein Fall, der selbst erfahrene Polizisten an den Rand des Erträglichen führt und der überregional Schlagzeilen macht. Nach dem jahrelangen Missbrauch eines Neunjährigen sitzen acht Tatverdächtige in Untersuchungshaft. Die Polizei ermittelt – und arbeitet am Schlussbericht, damit die ersten Prozesse in den kommenden Monaten beginnen können.
„Es sind Bilder und Töne, die sich einbrennen im Kopf“, sagt Peter Egetemaier, Chef der Freiburger Kriminalpolizei. In seinem Haus liefen und laufen die Ermittlungen in dem Fall, der nach Angaben der Beamten bisher bekannte Dimensionen sprengt. Vor zwei Wochen wurde er erstmals bekannt – und sorgt für Entsetzen. Auch bei den Ermittlern, die nun Einzelheiten nennen und einen ersten Einblick gewähren. Der heute neun Jahre alte Junge wurde den Ermittlungen zufolge von seiner Mutter und deren Lebensgefährten in zahlreichen Fällen über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren Männern für Vergewaltigungen überlassen. Das Paar hat dafür Geld kassiert, so die Polizei. Und es war an Vergewaltigungen aktiv beteiligt. Gezahlt wurde von Männern jeweils bis zu mehrere Tausend Euro, sagt Michael Mächtel, Sprecher der Staatsanwaltschaft. Dafür bekamen sie den Jungen auch für mehrere Tage. Der Kontakt zwischen der Familie des Jungen und den Männern lief über das Internet, die Taten wurden gefilmt.
„Wir haben es mit äußerst brutalen und menschenverachtenden Verbrechen zu tun“, sagt Egetemaier. „Die Art der Verbrechen, die Vorgehensweise der Täter sowie die Tatsache, dass eine Mutter ihr eigenes Kind verkauft und selbst misshandelt, das hat selbst erfahrene Ermittler an ihre Grenzen gebracht.“Einen ähnlichen Fall habe es noch nicht gegeben. Das Auswerten der auf Computern und Mobiltelefonen gefundenen Videos, auf denen Taten zu sehen und hören sind, sei besonders belastend.
Die 47 Jahre alte Mutter des Kindes und ihr 39-jähriger Lebensgefährte sind die beiden Hauptbeschuldigten. Details nennt die Polizei nicht. Doch die Beweise seien eindeutig, vor allem wegen der vielfach gespeicherten und von den Polizisten gefundenen Bildern und Filmen. Sie werden noch immer ausgewertet, die Polizei erhofft sich davon weitere Hinweise.
Anonym und grenzenlos
„Aufnahmen, die Kindesmissbrauch dokumentieren, werden in der Szene massenweise gespeichert, gesammelt und getauscht. Sie gelten manchen auch als eine Art Trophäe“, sagt Egetemaier. Ein Großteil der Ermittlungen laufe im Internet. Spezialisten der Abteilung Cyber-Crime kümmerten sich darum. Das weltweite Netz erlaube es Verbrechern, anonym und grenzenlos zu agieren, ein Tastendruck genüge. Die Polizei dagegen müsse sich an nationale Grenzen und Zuständigkeiten halten. Das mache die Strafverfolgung schwierig.
Der 39-jährige Lebensgefährte, der wegen schweren Kindesmissbrauchs vorbestraft ist und dem Gerichte ein Kontaktverbot zu dem Jungen auferlegt hatten, spricht mit den Ermittlern. Viele Stunden lang ist er bereits vernommen worden. „Doch die Arbeit läuft weiter“, sagt Polizeisprecherin Laura Riske. Es könnten sich Verbindungen zu möglichen weiteren Taten, Opfern und Verbrechen ergeben.
Die Szene, sagt der ermittelnde Beamte, sei über das Internet weltweit gut vernetzt. Leute, die genau wüssten, wie sie Spuren verdecken und trotz schwerer und vielfacher Straftaten im Verborgenen bleiben könnten.
Auch in diesem Fall sind einem Medienbericht zufolge unter den Verdächtigen fast ausschließlich polizeibekannte Wiederholungstäter. Sie seien bereits einschlägig vorbestraft gewesen, berichtete der Südwestrundfunk am Donnerstag.
„Die Täter bleiben meist auch untereinander anonym“, sagt Egetemaier. Frauen seien selten dabei. Und wenn, schauten sie in der Regel weg und ließen die Täter gewähren. Dass sie selbst vergewaltigen und misshandeln, wie in diesem Fall, sei neu.
Ausgelöst wurden die Ermittlungen im September durch einen anonymen Hinweis. „Es war damals nicht absehbar, welche Ausmaße dieser Fall annimmt“, sagt der KripoChef. Es habe schnell gehandelt werden müssen. „Oberstes Ziel war, das Martyrium des Jungen so schnell wie möglich zu beenden und gleichzeitig genügend Beweismaterial zu haben, um die mutmaßlichen Täter aus dem Verkehr ziehen zu können.“
Sechs Tage nach dem Hinweis klickten die Handschellen, der Junge wurde befreit. Auch er ist von den Polizisten in Freiburg mehrmals befragt worden – eine Herausforderung für alle Beteiligten. „Wir hoffen, dass er seinen Weg macht und ein möglichst gutes Leben vor sich hat“, sagt der ermittelnde Beamte.
Viele der Polizisten sind Väter und Mütter. „Dieser Fall hat keinen von uns kaltgelassen“, sagt einer der Beamten. Auch sie können Hilfe in Anspruch nehmen, betont der Kripo-Chef. Niemand werde für diese Arbeit gegen seinen Willen verpflichtet. Und: „Ein externer Psychologe sowie Kollegen stehen bereit, wenn Probleme auftauchen. Wir bieten regelmäßig Supervisionen an.“Das sei auch notwendig: „Kindesmissbrauch oder Kinderpornografie sind Delikte, die sich mit gesundem Menschenverstand nicht erklären lassen.“Das mache die Ermittlungen menschlich zur besonderen Herausforderung.
Die Debatte, die der Fall ausgelöst hat, spürt auch Egetemaier. „Ich würde mir wünschen, dass sie Impulse bringt“, sagt er. „Fachkenntnis aller an solchen Verfahren Beteiligten ist enorm wichtig.“Dies könne für Gefahren sensibilisieren und Verbrechen verhindern.