Weitwandern geht auch wunderbar im Winter
Die Via Engiadina führt hinauf auf die Höhe und durch die schönsten Dörfer des Unterengadins
Allegra!“, so begrüßen sich die Menschen im Unterengadin üblicherweise. „Allegra!“, schallt es auch den Wanderern auf der Via Engiadina entgegen. Das typisch schweizerische „Grüezi“ist hier nur selten zu hören. Wenn doch, verrät es, dass die Wanderkameraden eher aus der Inner- oder Ostschweiz stammen und nicht in diesem hoch gelegenen Unterengadiner Tal zu Hause sind, in dem man vorzugsweise rätoromanisch spricht.
Allzu viel Fußgängerverkehr herrscht auf der Via Engiadina, einem Weitwanderweg, der abschnittsweise auch im Winter begehbar ist, aber sowieso nicht. Viel mehr hat sich hier die große Ruhe ausgebreitet, die auch der dicken Schneedecke zu verdanken ist, die das Engadin in eine Winterwunderwelt verwandelt. Über den Wanderern spannt sich ein tiefblauer Himmel, unter ihnen knirscht bei jedem Schritt leise der Schnee. Die Sonne lässt die Eiskristalle glitzern, Baumwipfel, und Berggipfel sowieso, tragen eine weiße Mütze. Der Winter zeigt sich von seiner schönsten Seite.
Über 400 Jahre alte Häuser
Das tut er bei ähnlichen Bedingungen woanders natürlich auch. Im Engadin aber gesellen sich zum beeindruckenden Alpenpanorama auch noch sehenswerte Dörfer mit teilweise über 400 Jahre alten Ortskernen. Dort stehen – meist um einen Brunnen gruppiert – die Engadiner Bauernhäuser mit ihren wuchtigen Mauern, kleinen Fensterchen, großen Holzportalen und typischen Sgraffito-Verzierungen eng beieinander. Durch sieben dieser Dörfer führt die Via Engiadina im Winter. Die insgesamt 34 Kilometer lange Strecke ist in drei Touren aufgeteilt (13, 12 und 9 Kilometer) und geht von Susch über Ardez und Scuol bis nach Sent. Selbst für weniger Trainierte sind diese relativ kurzen Etappen gut zu schaffen, auch wenn sie zusammen 1100 Höhenmeter Aufstieg und 1600 Höhenmeter Abstieg bedeuten. Die Winterwanderwege sind breit, bestens präpariert und bis auf ein paar wenige Ausnahmen nicht allzu steil.
Ein wenig kritisch wird es manchmal allerdings, wenn es durch die Dörfer oder ein kurzes Stück auf wenig befahrenen Straßen entlang geht. Denn auch im Engadin hat es in diesem Januar bis auf 1600 Metern hoch geregnet. „Stundenlang geschüttet wie bei einem Sommergewitter“, erzählt Hotelier Roger Schorta kopfschüttelnd. Danach setzte Kälte ein und verwandelte Straßen und Gehwege teilweise in Eisflächen. Für die Via-Engiadina-Wanderer bedeutet dies: Den Blick von der zauberhaften Landschaft abwenden und auf den Weg richten, dabei vorsichtig Fuß vor Fuß setzen und sich gegebenenfalls an Handläufen festhalten. Nur langsam geht es so voran. Das macht aber überhaupt nichts. Denn die Dörfer entlang der Via Engiadina haben es allesamt verdient, dass man ihnen größere Aufmerksamkeit schenkt, vielleicht sogar an einem Dorfrundgang teilnimmt, der fast überall angeboten wird.
An erster Stelle steht dabei natürlich Guarda, das bereits während der ersten Etappe von Susch nach Ardez passiert wird. Auf einem Sonnenplateau gelegen ist der Ort vor allem durch den Schellen-Ursli bekannt geworden. Die Kinderbuchgeschichte um den Engadiner Bauernburschen wurde hier nicht nur erfunden und geschrieben, dem Künstler Alois Carigiet diente dieses Engadiner Dorf als Vorlage für die Illustration des Schweizer Kinderbuchklassikers. Ein Bilderbuchort im wahrsten Sinn des Wortes also, der geprägt ist von Sgraffito verzierten und bemalten Häusern und die Hektik dieser Welt schnell vergessen macht.
Aber auch die anderen Orte entlang der Via Engiadina lohnen einen Stopp – nicht nur um einzukehren und sich zum Beispiel mit Bündnerfleisch, Bergkäse oder gar der Graubündner Spezialität Capuns (mit Mangoldblättern umwickelter Spätzlesteig in einer würzigen Speck- Rahm-Soße) für den Weitermarsch zu stärken. So ist zum Beispiel die Kirche in Lavin mit ihren Fresken aus dem 16. Jahrhundert absolut sehenswert, genauso wie der gesamte Ort Ardez, die 400 Jahre alte und heute immer noch funktionstüchtige Getreidemühle bei Ftan oder der alte, bestens erhaltene Dorfkern von Scuol, dem Hauptort des Unterengadins. In Scuol, Ziel der zweiten Etappe, steht auch das Mineralbad Bogn Engiadina, in dem es sich nach einer Tageswanderung wunderbar entspannen lässt. Das an Mineralien und Eisen reichhaltige Wasser, das aus den Quellen rund um Scuol sprudelt, speist auch dieses moderne Bad mit mehreren Becken, Fontänen, Massagedüsen und einem großen Saunabereich.
Eine Rodelpartie zum Schluss
Dampf steigt über dem mit heißem Wasser gefüllten Außenbecken auf und vernebelt etwas den Blick auf die umliegenden Berge. Die Abendsonne bescheint gerade noch die letzten Zipfel dieser sogenannten Unterengadiner Dolomiten. Die Lust auf die letzte Etappe wird so gesteigert. Führt sie doch von Scuol aus hoch hinauf ins Skigebiet Motta Naluns auf über 2000 Höhenmeter. Zunächst geht es mit der Gondelbahn zur Bergstation. Ein sonnenbeschienener, bestens präparierter und ausnahmsweise sehr gut ausgeschilderter Wanderweg mit grandioser Aussicht führt am Rande des Skigebiets mal mehr, mal weniger bergauf und bergab Richtung Sent. Oberhalb von Sent würden dann zum Schluss dieser dreitägigen Wanderung 1000 Höhenmeter zeitweise steiler Abstieg folgen. Theoretisch. Denn wer sich das Höhenprofil der letzten Etappe zuvor genau angeschaut hat und seine Knie etwas schonen will, hat in weiser Voraussicht einen Schlitten mitgenommen und rodelt zum guten Schluss lässig hinunter ins Tal.