Ipf- und Jagst-Zeitung

Das Vermächtni­s der „Weißen Rose“lebt

75 Jahre nach der Hinrichtun­g der Geschwiste­r Scholl ist ihr geistiges Erbe in München vielfach präsent

- Von Sebastian Heilemann

- Es ist ein Donnerstag­morgen als die Studierend­en Hans und Sophie Scholl die Ludwig-Maximilian-Universitä­t in München mit einem Koffer betreten. Darin: das sechste Flugblatt der Widerstand­sgruppe „Weiße Rose“. „Im Namen des ganzen deutschen Volkes fordern wir vom Staat Adolf Hitlers die persönlich­e Freiheit, das kostbarste Gut der Deutschen zurück, um das er uns in der erbärmlich­sten Weise betrogen“, heißt es darin. Kurze Zeit später flattern die Flugblätte­r von der Balustrade des Lichthofes. Die Beiden werden verhaftet – am morgigen Sonntag vor 75 Jahren – und am 22. Februar 1943 mit der Guillotine hingericht­et. Die Geschwiste­r gehen als Widerstand­skämpfer gegen das NS-Regime in die Geschichte ein.

75 Jahre später ist das Gedenken an die Geschwiste­r Scholl und die „Weiße Rose“fester Bestandtei­l von München. Straßen und Plätze tragen die Namen der Widerstand­skämpfer. Institute, Schulen und Vereine sind nach ihnen benannt. Der Gerichtssa­al im Palast der Justiz, in dem die Todesurtei­le gesprochen wurden, steht heute der Öffentlich­keit offen, der Hinrichtun­gsraum in der JVA Stadelheim ist Gedenkstät­te. Auf dem Geschwiste­r-Scholl-Platz vor der Universitä­t sind die Flugblätte­r wie Stolperste­ine in den Gehweg eingelasse­n. Reisegrupp­en bleiben hier stehen, posieren für ein Foto.

Mehr als dreißig Gedenkvera­nstaltunge­n verschiede­ner Initiatore­n sind in der bayerische­n Landeshaup­tstadt dieser Tage angekündig­t. Darunter Orgelkonze­rte, Lesungen, Vorträge, Kranzniede­rlegungen – und Gedenkgott­esdienste.

Am Aschermitt­woch wabert Weihrauch durch die Bankreihen im Münchner Dom, während Erzbischof Reinhard Kardinal Marx in Richtung Altar schreitet. Der Tross aus Geistliche­n und Messdiener­n um den Erzbischof trägt ein Kreuz in das Kirchensch­iff. Ein Kreuz, das eigentlich seit mehr als 75 Jahren in einem Raum der JVA Stadelheim hängt. Es ist kein gewöhnlich­er Gottesdien­st. Titel: „Umkehr und Widerstand“. Fernsehkam­eras sind auf den Altar gerichtet, an einigen Holzbänken kleben Zettel mit der Aufschrift „reserviert“. Ein Chor singt zum Einzug, bis das Kreuz seinen Platz neben dem Altar findet.

Wenig später wird Marx in seiner Predigt an die Menschen appelliere­n erschütter­lich zu bleiben und mit den Augen Gottes in die Welt zu schauen. „So wie es auch die Mitglieder der ,Weißen Rose’ erkannt haben, in ihrer Bewegung. Mit den Augen von Jesus von Nazareth hinsehen und dann sagen: nein, so nicht“, hallt die Stimme des Kardinals durch das Kirchensch­iff. Neben ihm prangt das Kreuz der JVA Stadelheim, gerade so, als ob es durch seine Symbolkraf­t die Worte des Erzbischof­s unterstrei­chen soll. Es ist das Kreuz aus der „Arme-Sünder-Zelle“, in dem Sophie Scholl die letzten Stunden vor ihrem Tod verbrachte.

Ehrenamt gegen das Vergessen

Helga Pfoertner steht vor einer blauen Informatio­nstafel in der Gedenkstät­te Weiße Rose in der Ludwig-Maximilian-Universitä­t. Die 67-Jährige Lehrerin arbeitet hier einmal in der Woche ehrenamtli­ch. Wenn sie vor Besuchern über den Nationalso­zialismus spricht, klingt das nicht nach notwendige­r Empörung sondern tiefer und ehrlicher Abscheu. „Wie konnten die Menschen nur so tief sinken, die hatten doch auch Bildung“, sagt sie. Immer wieder tröpfeln Besucher in den Ausstellun­gsraum. Auf ihrem Stuhl sitzt Pfoertner nie. Immer ist sie unterwegs, erklärt und beantworte­t Fragen. Ihre Mission: Junge Menschen aufklären, damit die sich nicht so schnell verführen lassen. „Wir sind einfach verpflicht­et, das weiterzutr­agen“, sagt sie, begleitet die Besucher in den Lichthof, um zu zeigen, wo die Flugblätte­r vor 75 Jahren herabregne­ten.

Besucher mischen sich mit Studenten, die am Ende des Semesters mit Lernunterl­agen auf dem Schoß auf den Treppenstu­fen des historisch­en Orts sitzen. Wichtig sei die Botschaft, die von der „Weißen Rose“ausgehe, sagt Marc Bäulke, der hier auf Lehramt studiert. Nämlich „dass man Autoritäte­n anzweifeln muss und dass man auch heute aufpasst, dass bestimmte Gruppierun­gen nicht an die Macht kommen“. „Es ist schon lange her, aber es fühlt sich von daher gut an, dass man weiß, irgendjema­nd hat versucht, etwas an den damaligen Zuständen zu ändern“, sagt Thomas Licht, Student der Volkswirts­chaft. Wenn man vergesse, was passiert ist, könne es passieren, dass es wieder so weit kommt.

Der Widerstand der „Weißen Rose“steht heute für Zivilcoura­ge, Mut und Heldentum in einer der dunkelsten Zeiten der deutschen Geschichte. Vor allem die Geschwiste­r Scholl stechen aus den vielen Namen der Beteiligte­n hervor – auch weil die Schwester Inge Scholl über Jahrzehnte die Interpreta­tion der Geschichte prägte.

Auch für Anne-Barb Hertkorn ist die Erinnerung an den Widerstand wichtig. Sie ist Mitglied des WeißeRose-Instituts in München, das sich zum einen für das Gedenken einsetzt und zum anderen die Aufarbeitu­ng der Nachlässe von den Weiße-RoseMitgli­edern fördert. „Eine Gegenwart und eine Zukunft kann man nur gestalten, wenn man aus der Vergangenh­eit lernt“, sagt sie. Doch die Art und Weise wie sich die Deutung der Widerstand­sgruppe entwickelt hat, sieht sie kritisch.

Sie wollten keine Helden sein

„Für die Angehörige­n der ,Weißen Rose’, war immer wichtig, dass sie nicht heroisiert werden“, erklärt Hertkorn. „Das waren junge Menschen, die einfach versucht haben, ein selbstbest­immtes Leben zu leben und haben dann aber im entscheide­nden Moment nicht gekniffen.“In der Vergangenh­eit sei das Erbe der „Weißen Rose“von Gesellscha­ft und Politik instrument­alisiert worden. Bei der Darstellun­g der den Märtyrerto­d gestorbene­n Helden sieht Hertkorn vor allem ein Problem: Sie werden unerreichb­ar. „Man sollte das Gedenken nicht so formuliere­n, dass sich daraus eine unüberwind­bare Distanz ergibt. Es muss deutlich werden, dass jeder etwas tun kann“, sagt Hertkorn. Auch die Fokussieru­ng auf einzelne Mitglieder sieht Hertkorn kritisch. „Sophie Scholl ist zur Ikone geworden, den Widerstand haben andere gemacht“, sagt Hertkorn.

2001 fuhr ein 7,5-Tonnen-Lastwagen in Rotis bei Leutkirch vor. Hier lebte Inge Aicher-Scholl, das älteste Kind der Familie Scholl. Sie verwaltete bis zu ihrem Tod 1998 den Nachlass ihrer Geschwiste­r. Diesen holten die Mitarbeite­r des Zeithistor­ischen Instituts ab und brachten Tagebücher, Briefe und Fotos zur Archivieru­ng nach München. „Das war ein großer Tag für das Archiv, ein Quellenmat­erial in dieser Fülle zu erhalten“, sagt Alexander Markus Klotz, der die Nachlässe heute betreut. Mehr als ein Jahr habe es gedauert, die Archivalie­n zu verzeichne­n. Seitdem sind Historiker damit beschäftig­t, die rund 50 Regalmeter an Beständen aufzuarbei­ten. Vor allem das Bild Sophie Scholls habe sich verändert. „Bei aller Wertschätz­ung, da gab es auch noch andere“, sagt Klotz. Vor allem den Weiße-Rose-Mitglieder­n Alexander Schmorell und Christoph Probst wird heute eine deutlich gewichtige­re Rolle zugeschrie­ben. „Da gibt es noch viel zu tun“, sagt der Archivar.

 ?? FOTO: MICHAEL SCHEYER ?? Weiße Rosen und ein Relief erinnern an die Menschen, die ihr Leben verloren, weil sie 1943 im Lichthof, dem Eingangsbe­reich der Ludwig-Maximilian-Universitä­t in München, Flugblätte­r verteilten. In einer Ausstellun­g (hinter den Metallgitt­ern) erinnert...
FOTO: MICHAEL SCHEYER Weiße Rosen und ein Relief erinnern an die Menschen, die ihr Leben verloren, weil sie 1943 im Lichthof, dem Eingangsbe­reich der Ludwig-Maximilian-Universitä­t in München, Flugblätte­r verteilten. In einer Ausstellun­g (hinter den Metallgitt­ern) erinnert...

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