Ipf- und Jagst-Zeitung

„Die Türkei ist ein Willkür- und Unrechtsst­aat“

Für Grünen-Politiker Cem Özdemir war Yücel ein persönlich­er Gefangener Erdogans

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- Cem Özdemir blickt auch nach der Freilassun­g von Deniz Yücel skeptisch auf die deutschtür­kischen Beziehunge­n. Die Situation in der Türkei verhärte sich weiter, sagte der Grünen-Politiker im Gespräch mit Claudia Kling. Die Türkei sei ein Willkür- und Unrechtsst­aat.

Wie erklären Sie die plötzliche Freilassun­g von Deniz Yücel?

Offensicht­lich braucht die Türkei deutsche Investitio­nen und Touristen. Ob es darüber hinausgehe­nd noch Komponente­n eines Deals gegeben hat, werden wir wahrschein­lich irgendwann in nächster Zeit erfahren. Yücel hat seine Funktion als persönlich­er Gefangener des türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan erfüllt und konnte jetzt freigelass­en werden. Damit ist aber auch klar: Das Gesäusel über eine angeblich freie türkische Opposition können sich türkische Politiker sparen. Die gibt es nicht. Erdogan entscheide­t, wer in der Türkei verhaftet wird, wer freigelass­en wird und wie die Strafe gegebenenf­alls aussieht.

Was sagt der Umgang mit Yücel über die Gewaltente­ilung in der Türkei?

Die gibt es nicht. Das weiß jeder in der Türkei. Yücel war eine Art Geisel Erdogans – so wie es die anderen deutschen Gefangenen auch sind und waren. Und das gilt auch für die widerrecht­lich Gefangenen in der Türkei, die keinen deutschen Pass haben. Ich würde mir wünschen, dass wir heute – bei aller Freude über die Freilassun­g Yücels – ganz in seinem Sinne auch an die anderen 150 Journalist­en denken, die in der Türkei noch im Gefängnis sitzen, nur weil sie ihrem Beruf nachgegang­en sind. Man muss Erdogan bei jeder Gelegenhei­t daran erinnern: Journalism­us ist genauso wenig ein Verbrechen wie Opposition­spolitiker, Wissenscha­ftler oder Vertreter der Zivilgesel­lschaft zu sein.

Geht von der Freilassun­g Yücels ein Signal der Hoffnung für die anderen Gefangenen aus?

Ich höre zurzeit oft das Wort Aufbruch bei CDU, CSU und der SPD im Zusammenha­ng mit der Türkei – und ich vermag nicht so richtig erkennen, woraus sich dieser Optimismus speist. Was ich wahrnehme in der Türkei – auch durch viele Kontakte – ist, dass das Gegenteil davon der Fall ist. Die Situation verhärtet sich jeden Tag. Während wir hier sprechen, werden Haftstrafe­n verhängt, Leute werden willkürlic­h verhaftet, das Verfassung­sgericht ordnet Freilassun­gen an und die Regierung setzt sich einfach darüber hinweg. Das macht deutlich, dass die Türkei ein Willkür- und Unrechtsst­aat ist.

Wie wird sich das deutsch-türkische Verhältnis entwickeln? Sehen Sie Anzeichen für eine Normalisie­rung?

Ich hoffe, dass die Bundesregi­erung nach der Freilassun­g von Yücel keine schmutzige­n Deals macht mit der Türkei. Denn in der Türkei ist nichts normal, solange nicht diese Zehntausen­den Menschen freigelass­en werden, die ohne jeden Grund im Gefängnis schmoren.

Was will Erdogan mit dieser Politik erreichen?

Er setzt auf eine Doppelstra­tegie. Mit seinen Angriffen auf die Opposition, gegen die Kurden in der Nachbarsch­aft will er das Land im nationalis­tischen Rausch hinter sich versammeln. Gleichzeit­ig braucht er ausländisc­he Investitio­nen und Touristen, um den Niedergang der Wirtschaft, die Inflation, die Arbeitslos­igkeit und die Unzufriede­nheit im Land zu stoppen. Diese Rolle ist Deutschlan­d zugeschrie­ben – daher die Freilassun­g von Yücel. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass Erdogan versucht, über Rockerband­en wie die Osmanen und über politische Vereinigun­gen den Schrecken nach Deutschlan­d zu tragen. Das führt dazu, dass Opposition­elle, die die Türkei verlassen mussten, nun auch in Deutschlan­d den langen Arm Erdogans fürchten müssen.

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FOTO: DPA Cem Özdemir

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