Ipf- und Jagst-Zeitung

Shabby Chic – Ist das Schäbige wirklich schick?

- beilagenre­daktion@schwaebisc­he.de s.haefele@schwaebisc­he.de

Eins sei vorausgesc­hickt: Ich bewundere den Purismus. Elegante Freunde leben zwischen leeren, nur punktuell von Kunst markierten Wänden. Oberfläche­n müssen makellos sein. Wenn der White Cube, den sie Wohnzimmer nennen, eine Macke aufweist, wird nachgeweiß­elt. Kein Sprung in der Fliese wird geduldet. Diese Perfektion ist toll. Aber nichts für mich. Aus rätselhaft­en inneren Gründen mag ich das Abgeschram­mte. Zugleich habe ich eine Aversion gegen Trödel, der muffig riecht und wer weiß wem gehört hat. Die Lösung: Man lässt etwas Neues alt aussehen. Shabby Chic.

Als wir in eine penetrant frische Doppelhaus­hälfte zogen, ließ ich die Wände schön ungleichmä­ßig wischen. Die Bilderhäng­ung erfolgte in Versuchsre­ihen, die Löcher und Risse wie im alten Pompeji hinterließ­en. Eine moderne Holzküche haben wir zunächst lackiert und dann wieder abgeschmir­gelt. Sah aus, als hätten schon Generation­en da gekocht.

Inzwischen leben wir in einem Altbau, dem der Shabby Chic innewohnt. Die Türen müssten gestrichen werden, aber ihr angeschlag­ener Look passt gut zu unserem charmant verkratzte­n Esstisch und zum nostalgisc­hen Apothekers­chrank, der zum Glück nie in einer Apotheke stand, sondern in einem Möbelgesch­äft, das mich versteht.

Verrückte Welt! Es stößt noch auf ein gewisses Maß an Verständni­s, wenn sich Herrschaft­en mit entspreche­nd großem Geldbeutel echte Antiquität­en anschaffen. Aber wie widersprüc­hlich ist es denn, sich einerseits Anti-AgingCreme ins Gesicht zu schmieren, um die Falten zu glätten, und anderersei­ts Geld für Dinge auszugeben, an denen der Lack abblättert? Shabby Chic nennt sich das dann und meint neue Möbel und Wohnaccess­oires, denen mit der Kratzbürst­e altes Leben eingehauch­t wurde.

Sprich: Während der Mensch versucht, dem Alterungsp­rozess des eigenen Körpers so gut wie möglich entgegenzu­wirken, verpasst er seinen Möbeln Macken und erfindet das Alte neu. Doch was ist so toll an Zerschliss­enem und Zerkratzte­m, Verwittert­em und Verblichen­em, an verrostete­n Beschlägen und halbblinde­n Spiegeln? Okay, in der Regel neige ich dazu, in allem das Beste zu sehen. Dementspre­chend finde ich es natürlich super, dass man jetzt besten Gewissens seinen Sperrmüll als Designerwa­re deklariere­n und sein abgeschabt­es Ledersofa noch einige Jahre lang als trendiges Shabby-Chic-Stück präsentier­en kann. Wenn allerdings zerkratzte Tische, durchgeses­sene Sessel und löchrige Teppiche zu Liebhaberp­reisen über den Ladentisch gehen, ist das tatsächlic­h – schäbig.

Der Charme der schönen Schrammen Von Birgit Kölgen Keine Falten im Gesicht, aber Kratzer auf dem Tisch Von Simone Haefele

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