Ipf- und Jagst-Zeitung

Betrüger geben sich als Polizisten aus

Mesale Tolu stellt sich am Bosporus auf die Fortdauer des Ausreiseve­rbots ein – „Ich weiß nicht, was bei mir anders ist“– Das traumatisi­erte Kind nimmt sie in Beschlag

- Von Susanne Güsten

(sz) - Die Polizei spricht von einem Phänomen, das sich in ganz Deutschlan­d ausgebreit­et hat: Betrüger geben sich am Telefon als Polizisten aus und bringen vertrauens­selige Rentner um ihre Ersparniss­e. Ein aktuelles Gerichtsve­rfahren in Tettnang gibt Einblick in das System. Die Zahl der Betrugsver­suche mit dem Polizisten­trick hat sich seit 2016 verachtfac­ht. Einer Erhebung des Bundeskrim­inalamtes (BKA) zufolge seien in den Jahren von 2008 bis 2016 mehr als eine Million Menschen Opfer eines Betrugs durch Anrufer aus der Türkei geworden. Die Schadenssu­mme beläuft sich laut BKA auf mehr als 132 Millionen Euro.

- Mesale Tolu ist dünner geworden, seit sie vor zwei Monaten aus dem Gefängnis entlassen wurde. Das sei aber erst in den vergangene­n zehn Tagen passiert, erzählt die Journalist­in bei einem Treffen am asiatische­n Ufer des Bosporus in dieser Woche: Ihr Sohn Serkan geht seit vergangene­r Woche in den Kindergart­en, und die Eingewöhnu­ng des traumatisi­erten Dreijährig­en dort hat ihr körperlich mehr zugesetzt als acht Monate in türkischer Untersuchu­ngshaft. In Neu-Ulm wartet noch immer ein reserviert­er Platz im Kindergart­en auf Serkan, aber Mesale und ihr Mann Suat Corlu wollen jetzt erst mal Stabilität für das Kind schaffen. Schließlic­h könne sie nicht fest damit rechnen, dass ihr Ausreiseve­rbot beim Prozesster­min im April aufgehoben werde, meint Tolu. „Hinter mir steht schließlic­h nicht der Springer-Verlag“, sagt sie und lacht.

Aus dem Fernsehen hat sie am Freitag vergangene­r Woche von der Freilassun­g Deniz Yücels und seiner Ausreise aus der Türkei erfahren. „Überglückl­ich“sei sie für Yücel gewesen, sagt die 33-jährige, die ihm aus der eigenen Untersuchu­ngshaft heraus einen Solidaritä­tsbrief geschriebe­n hatte. Von den Umständen seiner Freilassun­g und Ausreise weiß sie aber nicht mehr, als sie aus den Medien erfahren hat. Vom deutschen Konsulat hat sie jedenfalls nichts gehört und weiß daher nicht, ob bei den jüngsten Demarchen des Bundesauße­nministers für Yücel vielleicht auch für ihren Fall etwas herausgeko­mmen ist. Eher nicht, vermutet sie: „Wenn man eine Linke ist, dann ist klar, dass das nicht dasselbe ist, wie wenn man für Springer und ,Die Welt’ arbeitet.“

Ein geregelter Alltag für Serkan

Vorläufig versuchen Mesale Tolu und ihr Mann deshalb, für ihren Sohn ein Leben in der Türkei aufzubauen, ihm einen geregelten Alltag und Spielkamer­aden zu verschaffe­n. Sollte sie im April dann doch die Ausreiseer­laubnis erhalten, werde es ihm ja nicht geschadet haben, zwei Monate in den türkischen Kindergart­en gegangen zu sein, meint sie. „Und wenn ich dann weiter nicht ausreisen darf, habe ich wenigstens einen Platz, an dem mein Sohn sich sicher fühlt.“Der Kindergart­en, den sie und ihr Mann ausgesucht haben, wird von einem Psychologe­n geleitet, der die Familie bei der Eingewöhnu­ng des kleinen Jungen unterstütz­t. Das funktionie­rt offenbar recht gut: Serkan, der noch vor ein paar Wochen nicht einmal die Hand seiner Mutter loslassen wollte, weil er durch die Trennung während ihrer Haftzeit so verstört war, bleibt während des Treffens erstmals zwei Stunden ohne sie im Kindergart­en.

Dabei hätte es kürzlich fast einen schweren Rückschlag für seine psychische Heilung gegeben, als die Wohnung der Familie schon wieder von der Polizei gestürmt wurde. Die Staatsanwa­ltschaft hatte Suat Corlu sieben Wochen nach seiner Haftentlas­sung wieder zur Festnahme ausgeschri­eben, um seine Aussage zu einer ähnlichen Angelegenh­eit einzuholen – als hätte sie während seiner Haftzeit nicht genug Gelegenhei­t dazu gehabt, meint Tolu. Anders als bei der Razzia zuvor, als ihr das verstörte Kind aus den Armen gerissen wurde, konnten die Eltern diesmal die Polizisten überreden, Serkan in Ruhe zu lassen. „Ich bin an seinem Bett sitzen geblieben, damit er nicht aufwacht, während mein Mann abgeführt wurde“, erzählt sie. Erst als die Polizisten mit Suat im Hausflur unten waren, lief sie hinaus und rief ihrem Mann nach: „Wir sehen uns wieder!“

Dem Kind erzählte sie am nächsten Morgen, der Papa sei für ein paar Tage zur Oma gefahren. Doch Corlu wurde inzwischen nach Ankara geschafft, wo er acht Tage in Polizeihaf­t blieb – bis die Staatsanwa­ltschaft entschied, dass sie ihn doch nicht anhören wolle, und ihn wieder freiließ. Als Corlu herauskam, warteten Mesale und Serkan schon draußen; der kleine Junge glaubte, er hole den Vater vom Flughafen ab.

Dem Kind die Angst zu nehmen, indem sie immer für ihn da ist, das beanspruch­t noch immer den Großteil der Zeit von Mesale Tolu. Daneben hat sie angefangen, von zu Hause aus wieder zu arbeiten, sowohl für die türkische Agentur Etha, für die sie schon früher schrieb und übersetzte, als auch neuerdings für deutsche und österreich­ische Medien – mit Artikeln über Pressefrei­heit. Das Leben müsse auch während der Prozessdau­er weitergehe­n, sagt Tolu. „Ich kann nicht ständig so leben, als würde ich morgen ausreisen.“

Die Lage bleibt ungewiss

Denn ihre Lage ist noch immer ungewiss. Anders als Deniz Yücel und anders als der im Herbst freigelass­ene deutsche Menschenre­chtler Peter Steudtner bekommt sie tatsächlic­h den Prozess gemacht, ruft sie in Erinnerung. Schon an zwei Verhandlun­gstagen hat sie sich vor Gericht verteidige­n müssen. Und anders als Yücel und Steudtner besteht gegen sie weiterhin ein Ausreiseve­rbot. „Ich weiß nicht, was bei ihnen anders ist als bei mir“, sagt sie.

Beklagen will sich Mesale Tolu dennoch nicht. „Ich fühle mich nicht benachteil­igt“, sagt sie – im Gegenteil fühle sie sich überaus privilegie­rt, ihren Unterstütz­erkreis in Ulm hinter sich zu wissen. Der setze sich auch nach der Haftentlas­sung weiterhin für sie ein. „Und dann sind hier ja noch über 150 weitere Journalist­en inhaftiert, für die sich auch kein großer Verlag einsetzt.“Außerdem genieße sie auch einen Vorteil gegenüber Deniz Yücel, der offenbar in der Türkei bleiben wollte und es nicht durfte: „Ich darf noch hier sein.“

Sollte die Ausreisesp­erre aufgehoben werden, will Mesale Tolu dennoch nach Deutschlan­d zurückkehr­en, vor allem um ihres Kindes willen. „Ich will, dass mein Sohn in Deutschlan­d aufwächst, eine deutsche Erziehung bekommt, die deutsche Sprache lernt und ein soziales Umfeld in Deutschlan­d hat – so wie ich auch“, sagt sie. Der Kindergart­enplatz in Ulm bleibt deshalb für Serkan reserviert. Doch selbst wenn Tolu irgendwann nach Deutschlan­d ausreisen darf, kommt das nächste Problem auf sie zu: Soll sie dann zum Urteilster­min in die Türkei reisen – und riskieren, dass sie doch noch eingesperr­t wird? Oder soll sie dem Prozess fernbleibe­n – und dann nie wieder in die Türkei einreisen dürfen? Die Antwort wäre einfacher, wenn ihr Mann nicht türkischer Staatsbürg­er wäre, der nicht ausreisen darf aus der Türkei.

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FOTO: GÜSTEN Das Gefühl der Freiheit: Mesale Tolu am Bosporus.

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