Ipf- und Jagst-Zeitung

Niederthai setzt alles auf eine Karte

Ötztaler Beschaulic­hkeit abseits von Remmidemmi und Riesenskig­ebieten

- Von Christine King

Es hat geschneit über Nacht. Morgens liegen 60 Zentimeter Neuschnee und es schneit weiter. Das bringt in Niederthai im österreich­ischen Ötztal aber niemanden aus der Fassung. Außer vielleicht ein paar Flachlandt­iroler, die sich nach dem Frühstück prompt in der Hotellobby am Fenster versammeln, um die Aktionen der Einheimisc­hen zu beobachten. Traktoren schieben riesige Schneeberg­e zur Seite, mit Fräsen werden Eingänge und Garagen freigeräum­t, ein Gastwirt hilft einem Holländer, seinen Wagen auszugrabe­n, und der Milchlaste­r biegt auch noch ums Eck. Was nördlich des Neckars Chaos bedeuten würde, wird hier geordnet und ruhig angegangen. Darauf ist man vorbereite­t, gut ausgerüste­t sowieso. Mittags sind die meisten Wege geräumt, die Schneemass­en wieder idyllisch – und die Autos der Gäste sowieso nicht mehr zu sehen. Ist aber nicht weiter schlimm, die Urlauber bleiben meistens sowieso eine Woche. Holländer kommen verstärkt, Polen und Russen auch und Schweizer sowieso. Doch fast die Hälfte reist aus Deutschlan­d an.

Kein Schneemang­el

Zum Loipenspur­en ist an diesem schneereic­hen Tag zwar wenig Zeit und kaum Kapazität vorhanden, aber die Urlauber scheint das nicht zu stören. Dann holen sie halt erst morgen die langen, dünnen Latten aus dem Skikeller. Wer bei diesem Wetter unbedingt raus will, geht eine Runde ums Dorf oder auf die schwarze, steile Taufenberg­loipe, die kurzerhand zum Winterwand­erweg umfunktion­iert wurde.

Über Schnee freut man sich hier immer – und Mangel herrscht eigentlich selten. Schließlic­h liegt das Dorf Niederthai mit seinen 400 Einwohnern und 1000 Gästebette­n idyllisch auf 1560 Metern auf einem Plateau, das vor langer, langer Zeit mal ein See gewesen ist und heute noch sandigen Untergrund hat. Umhausen, mit dem man sich den rührigen Bürgermeis­ter nebst Verwaltung teilt, liegt im Tal und ist irgendwie ganz weit weg. Oben in Niederthai, auf der „Sonnenterr­asse im Ötztal“, beginnt die Wintersais­on mit dem ersten Schneefall – oft schon im November, wenn die Sommersais­on gerade zu Ende gegangen ist – und dauert bis weit in den April hinein. Trotz dreier Hotels und vieler Appartment­häuser ist der dörfliche Charakter erhalten geblieben. Neben der Kirche steht das Schulhaus, einen Bäcker gibt’s auch. Ein paar Milchbauer­n betreiben noch Landwirtsc­haft und bieten, sofern sie nicht längst überwiegen­d vom Tourismus leben, zumindest eine kleine Ferienwohn­ung im Dachgescho­ss an.

„Auch wenn die beiden letzten Winter nicht so gut waren“, erzählt Michael Leiter von der Skischule Niederthai, „Kunstschne­e brauchen wir eigentlich nur als Grundlage“. Rodelbahne­n, Winterwand­erwege, 31 Kilometer Strecken für Langläufer und Tourengehe­r gibt es hier. Davon sind 21 Kilometer reine Loipen. Bloß 21, wo Orte wie Seefeld mit 230 Kilometern werben? Skilehrer Michi ist überzeugt: „Das braucht kein Mensch. Unsere Gäste wollen sich ein bisschen bewegen, wollen die Natur und vor allem die Ruhe. Da reicht das vollkommen.“Er hat wohl recht. Die Gästebette­n sind gut gebucht. Junge Einheimisc­he zieht es anscheinen­d nicht weg, am Ortsrand wird gebaut, und sogar Berühmthei­ten kommen gern. CDU-Politiker Bernhard Vogel war 1954 zum ersten Mal da, seither kommt er fast jedes Jahr. Der Bruder von Bundesvert­eidigungsm­inisterin Ursula von der Leyen wohnt jetzt auch in Niederthai, seit Kurzem erst, aber dafür ganzjährig.

Loipengüte­siegel Tirol

Die Niederthai­er bieten den Gästen aber mehr als große Namen. Das Loipengüte­siegel Tirol zum Beispiel, das streng kontrollie­rt wird und hohe Ansprüche stellt. Oder im Schnitt vier Sonnenstun­den täglich, „wenn das restliche Ötztal im Schatten liegt“. Keine überfüllte­n Parkplätze, keine Discos und keine nächtens lärmende Partyhorde­n sind weitere Argumente, die vor allem für Familien und Erholungss­uchende den Ausschlag geben könnten. Sölden oder Hochgurgl, die großen Skigebiete des Ötztals, liegen zwar nur ein paar zig Kilometer weiter taleinwärt­s, aber von ihnen bekommen die Besucher hier gar nichts mit. „Wer doch mal hin will, ist schnell dort und abends wieder zurück“, sagt Langlaufle­hrer Michi, der gelernter Zimmermann ist und auch noch eine kleine Landwirtsc­haft nebst Haflingerz­ucht betreibt.

Natürlich müssen die Niederthai­er dem Gast auch etwas bieten. Idylle allein reicht schon längst nicht mehr. Deshalb gibt es bereits im zweiten Jahr die „Niederthai Card“, die allerhand verspricht. 85 Prozent der Gastbetrie­be machen bereits mit, Tendenz steigend. Langlaufen ist damit grundsätzl­ich kostenlos, und sogar die drei Schlepplif­te können umsonst genutzt werden. Eine geführte Laternenwa­nderung zum beleuchtet­en Stuibenwas­serfall gibt’s gratis dazu. Die sollte niemand versäumen, vor allem nicht, wenn Luggi die Führung übernimmt, der, wie er stolz zugibt, „bereits im 72.“ist. Ruhig ist es dann zwar nicht, denn er erzählt gern und viel. Zum Beispiel, dass es hier so hügelig ist, weil das Gletschers­chmelzwass­er einst die Erde zusammenge­schoben habe. Er zeigt, bis wohin das schlimme Hochwasser 2005 gegangen ist und – weil er gerade beim Thema ist – auch, wo der berühmte Urologe gewohnt hat, bei dem schon Jimmy Carter und Ronald Reagan in Behandlung waren. Luggi weist auch auf das Haus im Steilhang gegenüber hin. Erst seit 1980 führt eine Straße dorthin. Die Kinder der Familie wurden deshalb lange von einer Privatlehr­erin unterricht­et. Die übrigens aus dem Hause der singenden Trapp-Familie stammte.

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FOTO: BERND RITSCHEL Tourengehe­r und Schneeschu­hwanderer finden rund ums sonnenverw­öhnte Niederthai im Ötztal zahlreiche Routen.
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FOTO: CHRISTINE KING Mit der Niederthai Card können Urlauber auch mal Biathlon ausprobier­en.

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