Ipf- und Jagst-Zeitung

Europa steht vor Verteilung­skämpfen

- Von Verena Schmitt-Roschmann, Brüssel

Beim Geld hört die Freundscha­ft auf, das ist in der Europäisch­en Union nicht anders. Die Gemeinscha­ft steht vor Verteilung­skämpfen, wenn nach dem EUAustritt Großbritan­niens Milliarden­summen in der Beitragska­sse fehlen. Was soll die EU künftig tun? Wer zahlt wie viel? Und wer hat den Nutzen? Am Freitag starteten Kanzlerin Angela Merkel und ihre EUKollegen beim Sondergipf­el in Brüssel eine heikle Grundsatzd­ebatte.

Merkel verursacht­e Wirbel mit dem Vorschlag, bei der Verteilung von EU-Geldern auch die Aufnahme von Flüchtling­en zu berücksich­tigen – und im übrigen auf die Einhaltung von EU-Grundwerte­n zu pochen. Doch ist das nur ein Streitpunk­t von vielen. Viel mehr als ein erstes Kräftemess­en war es noch nicht, das Gezerre dürfte sich bis weit ins nächste Jahr ziehen.

Tatsächlic­h ist der Haushaltss­treit in der EU keineswegs neu – eher ist es ein Klassiker. Die Gemeinscha­ft arbeitet mit einem mehrjährig­en Finanzrahm­en, kurz MFR, der auf Jahre hinaus Schwerpunk­te setzt und auch wie ein Korsett für den jährlichen Haushalt wirkt. Bis der aktuelle MFR für die Jahre 2014 bis Ende 2020 im Umfang von fast 1000 Milliarden Euro stand, wurde 29 Monate lang gefeilscht.

Ab 2021 wird durch den Brexit alles noch unübersich­tlicher. Wenn Großbritan­nien geht, fehlen netto jährlich bis zu 14 Milliarden Euro. Gleichzeit­ig sucht die EU neue bürgernahe Themen, und dafür braucht sie frisches Geld.

Bisher gehen 80 Prozent des Haushalts in Agrar- und Strukturhi­lfen. Künftig könnte mehr Geld in den Grenzschut­z, in Verteidigu­ng oder das Studentenp­rogramm Erasmus fließen. Aber will man wirklich mehr Steuergeld nach Brüssel überweisen? Sucht man neue Einnahmequ­ellen? Oder schichtet man im Haushalt um? Die Positionen sind extrem unterschie­dlich. Union und SPD stellen in ihrem Koalitions­vertrag zusätzlich­e Mittel aus Berlin in Aussicht. Die Niederland­e und Österreich fordern dagegen eisern: Eine kleinere EU braucht einen kleineren Haushalt. Die Agrarstaat­en warnen vor Kürzungen bei den Bauern, die östlichen Staaten wollen keine Einschnitt­e bei Fördertöpf­en – ebenso wenig, übrigens, wie die deutschen Bundesländ­er. Merkels Vorschlag, bei Strukturhi­lfen zu berücksich­tigen, wer Flüchtling­e aufgenomme­n hat, macht die Gemengelag­e nur noch komplexer.

Machtkampf um Spitzenkan­didaten

Neben der Finanzdeba­tte hatten die Staats- und Regierungs­chefs ein Thema, das nur auf den ersten Blick harmlos daherkommt: Wie sieht das Europaparl­ament nach dem Brexit aus? Und wie wird nach der nächsten Europawahl im Mai 2019 der mächtige Präsident der EU-Kommission bestimmt? Als Chiffre dafür steht in Brüssel der deutsche Begriff „Spitzenkan­didat“, von Diplomaten fremder Zunge gerne ausgesproc­hen mit allerlei charmanter Färbung. Dahinter steckt ein Machtkampf.

Die Spitzenkan­didaten gab es 2014 zum ersten Mal, der Christdemo­krat Jean-Claude Juncker und der Sozialdemo­krat Martin Schulz machten Wahlkampf in ganz Europa. Ziel war, durch bekanntes Personal mehr Wähler zu mobilisier­en. Das klappte mäßig, und am Ende stand ein Dilemma: Eigentlich dürfen die Staats- und Regierungs­chefs den Kommission­spräsident­en nominieren. Doch als die Christdemo­kraten gewonnen hatten, kam man an Juncker nicht mehr vorbei.

Soll das 2019 wieder so laufen? Das Europaparl­ament hat sich darauf festgelegt. Die Staats- und Regierungs­chefs verbitten sich solche Vorgaben schon aus Prinzip. Aber offen sagen will das auch niemand: Brüsseler Hinterzimm­er-Deals stehen beim Bürger nun nicht gerade hoch im Kurs. „Es ist höchste Zeit, dass die Staats- und Regierungs­chefs mehr europäisch­e Demokratie wagen“, sagt der Grünen-Europaabge­ordnete Sven Giegold. Deshalb gibt es fürs Erste eine Kompromiss­formel: Die Parteien könnten ja Spitzenkan­didaten aufstellen, aber das sei keine „Garantie“und kein „Automatism­us“, sagen EU-Diplomaten. Nach der Wahl sehe man dann weiter. Rückhalt gibt es aber nach Angaben von Diplomaten zumindest dafür, das nächste Europaparl­ament wegen des Brexits von 751 auf 705 Sitze zu schrumpfen.

Überhaupt, der Brexit: Zum Sondergipf­el und der Zukunftsde­batte trafen sich die 27 Staatenlen­ker bewusst ohne Großbritan­nien. Doch das Thema ist allgegenwä­rtig. Wie geht es nach dem EU-Austritt weiter im Verhältnis zu Großbritan­nien? Brüssel verlangt seit Wochen eine klare Ansage aus London, doch dort war man ausgiebig mit der internen Meinungsfi­ndung beschäftig­t. Nun aber kam pünktlich vor Ende des Gipfels die Ankündigun­g: Nächsten Freitag will Premiermin­isterin Theresa May ihre Vorstellun­gen darlegen. (dpa)

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Was vorne reingeht und hinten rauskommt

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