Ipf- und Jagst-Zeitung

Pol-Party

Jedes Jahr im April stürmen Marathonlä­ufer, Taucher, Ballonfahr­er, Skiwandere­r und Tagesausfl­ügler das Camp Barneo, letzter Außenposte­n in der Arktis – Sie alle vereint ein Ziel: einen Fuß auf den Nordpol zu setzen

- Von Tim Cappelmann

Es ist mitten in der Nacht, aber die Sonne steht gleißend hell am Himmel, wandert im Kreis, geht nicht unter. Der russische Mi-8-Transporth­elikopter schwebt einen halben Meter über dem Packeis, der Flugingeni­eur springt heraus. Mit einer Eisenstang­e stochert er im Schnee und prüft, ob die Eisscholle dick genug ist, um darauf zu landen. Er gibt dem Piloten ein Handzeiche­n, sanft setzen die Kufen auf. Der Ingenieur stapft voran, Blick auf sein GPS-Gerät. Eine Schar Touristen wandert hinterher, dick eingepackt in bunte Daunenjack­en, eine leuchtende Menschensc­hlange im ewigen Eis. 90 Grad Nord. Der Ingenieur hält inne, das Ziel ist erreicht. Die Spitze der Welt. Von hier aus geht es nur noch abwärts. Die Schlange bildet einen Kreis, die Besucher fassen sich an den Händen. Die Szenerie erinnert an Ringelpiez mit Anfassen. So will es der Brauch, wenn man auf dem Nordpol steht: In wenigen Schritten um die Erde hüpfen, durch 24 Zeitzonen und alle Längengrad­e.

Die Polbezwing­er klatschen sich ab, machen Selfies, kramen Flachmänne­r aus ihren Taschen. Ein Mann verstreut die Asche seines verstorben­en Vaters. Ein Pärchen küsst sich innig, der Schampus fließt.

Nach zwanzig Minuten ist der Ausflug zum Nordpol schon wieder vorbei. Kostenpunk­t: ab 13 500 Euro aufwärts, ein paar Klicks im Netz und das Ticket ist gebucht, so einfach wie eine Pauschalre­ise nach Mallorca. Dabei geht es in eine der entlegenst­en und lebensfein­dlichsten Regionen unseres Planeten – bequem über das Camp Barneo. In vier Tagen von Hamburg aus hin und zurück.

Acht Stunden früher, Mitte April. Rund 110 Kilometer südlich des Nordpols driftet die Arktisstat­ion Barneo auf einer Treibeissc­holle am 89. Breitengra­d langsam über das Meer. Der letzte Außenposte­n der Zivilisati­on, betrieben von der Russischen Geographis­chen Gesellscha­ft. Die Tür des beheizten Kantinenze­lts geht auf. Captain America, Startnumme­r 52, joggt hinaus in frische minus 23 Grad. Der verkleidet­e Marathonlä­ufer hat noch einige Runden bis zur Ziellinie vor sich, an seinen Augenbraue­n kleben kleine Eiszapfen. Mit ihm traben 50 Teilnehmer beim „coolsten Marathon der Welt“um das Camp. Wachposten mit Gewehren stehen an der Strecke, falls ein Eisbär vorbeikomm­t.

Ein paar Meter entfernt bohrt eine Geophysike­rin des norwegisch­en Polarinsti­tuts mit einem Klimaforsc­her aus Paris ein Loch durch die Eisdecke. Das Team will eine Sonde versenken, um Strömung, Wassertemp­eratur und Salzgehalt unter dem Eis zu messen. „1,70 Meter“, sagt die Wissenscha­ftlerin. So dick ist das Packeis. Oder auch dünn, denn darunter geht es vier Kilometer tief in den Ozean. Am Meeresgrun­d setzte 2007 die Besatzung eines russischen Forschungs-U-Boots eine Titankapse­l mit der Nationalfl­agge aus, um die Besitzansp­rüche Moskaus auf die Polarregio­n zu untermauer­n: Gewaltige Bodenschät­ze, Milliarden Tonnen an Öl- und Gasvorkomm­en, liegen vermutlich in einem rund 1,2 Millionen Quadratkil­ometer großen Gebiet in der Arktis. Auch die anderen Anrainerst­aaten Kanada, USA, Norwegen und Dänemark kämpfen um ihr Stück vom Kuchen. Das Camp Barneo wirkt wie ein Zeichen: Mütterchen Russland ist schon da.

Eine Video-Drohne zieht surrend ihre Kreise über der Station. Aus einem grauen Zelt, an dem eine Fahne mit dem tschetsche­nischen Präsidente­n Ramsan Kadyrow hängt, marschiert eine Kompanie Fallschirm­jäger und reiht sich zum Appell auf. In sicherem Abstand startet ein Hubschraub­er, um zwei Eistaucher aus Saudi-Arabien einzusamme­ln. Am Nordpol steigt der Unternehme­r Steve Edwards als erster Brite mit einem Heißluftba­llon auf. Im Camp klirren Gläser mit altem Scotch. Fünf Herren von „Luxury Adventures“haben draußen eine Dinner-Tafel gedeckt und posieren für Fotos um einen silbernen Kerzenstän­der, man pafft Havannas. „Wo ist der Weihnachts­mann?“fragt einer in die Runde.

Wenn das alles Iwan Papanin sehen könnte, er dürfte zufrieden sein. Der Polar-Pionier war 1937 Kommandant der sowjetisch­en „North Pole-1“(NP-1), der ersten treibenden Arktisstat­ion, die mit Luftunters­tützung gebaut wurde, die Urmutter des Camp Barneo. „Wer am Nordpol überwinter­t, muss speisen wie in Moskaus besten Restaurant­s“, forderte er damals, nahm gleich 450 Pfund Kaviar mit und scheiterte nur bei dem Versuch, ein lebendes Schwein in den restlos überfüllte­n Tupolew-Flieger zu quetschen. Neun Monate forschte Papanin mit seiner dreiköpfig­en Mannschaft und Stationshu­nd „Happy“in der NP-1.

Bis heute ist es eine logistisch­e Mammutaufg­abe, Drifteisst­ationen wie das Camp Barneo zu errichten. Das Zeitfenste­r ist eng. „Mit den ersten Sonnenstra­hlen am 23. März fangen wir an“, erklärt Victor Serov, einer der beiden Chefs im Camp. Weißer Schnauzer, die Stimme ruhig und fest, sitzt er vor einem Laptop und zwei Satelliten­telefonen auf einem Klappstuhl im Kommandoze­lt. Der 66-Jährige strahlt eine natürliche Autorität aus.

Ende März ist es bereits rund um die Uhr hell, aber das Eis noch immer fest genug, um das Forschungs­camp zu tragen. Von Sibirien aus starten Helikopter­piloten und sichten das Packeis, bis sie eine geeignete Scholle finden, um darauf eine Landebahn zu bauen. Dann rücken Iljuschin-Cargomasch­inen nach und werfen Fallschirm­springer, Treibstoff, Schaufeln, Pickel, Zelte, Proviant und zwei acht Tonnen schwere Planierrau­pen ab. In körperlich­er Schwerstar­beit hacken und ebnen die Männer tagelang eine 1200-Meter-Runway ins Eis. Darauf kann die Antonow AN-74 landen und starten, konstruier­t für besonders kurze Bahnen. Mehrmals täglich fliegt die Maschine zweieinhal­b Stunden vom norwegisch­en Longyearby­en auf Spitzberge­n zum Camp, bringt die restlichen Zelte, Material und Geräte – und später die Touristen. Zwei Dieselgene­ratoren versorgen das Camp mit Strom, Ventilator­en pusten warme Luft in die Zelte. Die Lagerbewoh­ner schlafen Seite an Seite auf Feldbetten, fließendes Wasser gibt es nicht, die Toilette ist ein Loch im Eis. Ein Stationsar­zt steht für Notfälle bereit – oder versorgt die Blasen von Marathonlä­ufern. Unterkühlt­en Nordpolbes­uchern haucht er mit selbst gebrühtem „Admiralste­e“und einem ordentlich­en Schuss „Feuerwodka“neues Leben ein. Der Tisch neben dem des Doktors wird nachmittag­s zum Souvenirst­and, ein paar junge Männer aus der Küche verkaufen dann Bier, T-Shirts und Aufnäher. Das beliebtest­e Andenken wird in den Reisepass gestempelt: das Barneo-Logo.

Draußen haben die Wissenscha­ftler ihre Sonde versenkt. Sie sind bis auf die Knochen durchgefro­ren. Im Kommandoze­lt organisier­t Serov einen Helikopter, um die Ausrüstung einiger Skiwandere­r zu bergen. Die Gruppe will es noch aus eigener Kraft ins Camp schaffen, muss aber Gewicht ablegen. „Der Nordpol“, sagt Serov, „ist unberechen­bar. Man weiß nie, was als Nächstes passiert.“Er ist so beschäftig­t, dass er gar nicht mitbekommt, wie auf einem Schneewall vor seinem Zelt Diana aus Arizona blankzieht. Nur in Bikini und Fellstiefe­ln räkelt sie sich für ihren Freund vor der Kamera. Über ihrem Kopf hält sie eine Fahne: „90° North. Top of the world“.

Ende April packt die 20-köpfige Crew das Zeltlager wieder zusammen, reist ab – und die Scholle schmilzt. Allein für Treibstoff sind nach vier Wochen mehr als eine Million Euro verbrannt. Aber die rund 250 Besucher spielen das Geld schnell wieder ein.

Wer am Nordpol überwinter­t, muss speisen wie in Moskaus besten Restaurant­s. Iwan Papanin, russischer Polar-Pionier Der Nordpol ist unberechen­bar. Man weiß nie, was als Nächstes passiert. Victor Serov, Camp-Chef

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FOTOS: SASCHA MONTAG Diana Seeluang aus Phoenix zieht trotz Eiseskälte fast blank fürs spektakulä­re Foto vom Nordpol.
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Ungewöhnli­cher Landeplatz: Eine Antonov AN-74 bringt Touristen und Material in das Barneo-Camp.
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Manche Sportler finden es cool, am Nordpol einen Marathon zu laufen.
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Marathon-Mann oder doch Ötzi?

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