Ipf- und Jagst-Zeitung

„Die Christen sollten etwas selbstbewu­sster auftreten“

Der Theologe und Autor Manfred Lütz kritisiert inhaltslee­re Politikerr­eden vom „christlich­en Abendland“

-

- Toleranz, Mitleid, Internatio­nalisierun­g sind „Erfindunge­n des Christentu­ms“: Der Theologe und Autor Manfred Lütz fordert Christen dazu auf, in ihrer Sache selbstbewu­sster aufzutrete­n. Im Gespräch mit Ludger Möllers sagte der Kölner Psychiater, die inflationä­re Rede vom christlich­en Abendland sei mit Leben zu erfüllen. Es sei „eigentlich ein Skandal, dass man die Christentu­msgeschich­te nur als Skandalges­chichte kennt“.

Warum ist das Christentu­m als Thema in der Politik derzeit so beliebt und aktuell, während die Kirchen sich leeren? Und warum geht gleichzeit­ig die Anziehungs­kraft des Christentu­ms, jedenfalls des verfassten Christentu­ms in katholisch­en und evangelisc­hen Kirchen, zurück?

Das Wort „christlich“wird inzwischen inflationä­r gebraucht. Bei Parteitage­n redet man vom christlich­en Menschenbi­ld, andere sprechen besonders gerne vom christlich­en Abendland, alle reden über christlich­e Werte. Was das aber ist, das weiß eigentlich kaum einer genau.

Das Problem liegt aber tiefer ...

Ich glaube, dass nicht nur die Kirchen sich leeren. Ich glaube auch, dass die Substanz, die das Christentu­m in Europa hinterlass­en hat, zum Beispiel Mitmenschl­ichkeit, zunehmend verdunstet. Gregor Gysi hat gesagt, er sei Atheist, aber er habe Angst vor einer gottlosen Gesellscha­ft, weil der die Solidaritä­t abhanden kommen könne. Und bei der Vorstellun­g meines neuen Buches hat er betont, man würde nicht über Barmherzig­keit und Nächstenli­ebe reden, wenn es das Christentu­m nicht gäbe. Von links außen, von rechts außen, von überall wird an das Christentu­m appelliert. Das Problem ist aber, dass die Christen selber sich für ihre eigene Geschichte sicherheit­shalber schämen, ohne sie zu kennen.

Und was ist da zu tun?

Wir brauchen Aufklärung. Ich habe fünf Jahre lang Theologie studiert, aber war total überrascht darüber, was ich vor einigen Jahren in dem Buch „Toleranz und Gewalt“von Arnold Angenendt über die Geschichte des Christentu­ms las. Das meiste wusste ich nicht. Und deswegen hanoch be ich jetzt mit Arnold Angenendt zusammen für eine breitere Öffentlich­keit eine ergänzte Kurzfassun­g geschriebe­n: Auf 286 Seiten alle sogenannte­n Skandale der Christentu­msgeschich­te auf dem heutigen Stand der Wissenscha­ft und möglichst locker lesbar. „Der Skandal der Skandale“heißt das Buch, weil es eigentlich ein Skandal ist, dass man die Christentu­msgeschich­te nur als Skandalges­chichte kennt.

Warum gehen Politiker in ihren Sonntags- und Bundestags­reden so viel auf das Christentu­m ein? Hätte es keine Botschaft, wäre es ja als Fundament oder als Referenzpu­nkt nicht geeignet.

Irgendwie ist das Christentu­m die einzige übrig gebliebene Weltanscha­uung, denn der Marxismus ist ja untergegan­gen. Das ist ein Problem für alle linken Parteien, die manchmal einen leicht verdünnten Marxismus vertraten. Was ist eigentlich das Spezifisch­e einer linken Partei?

Zurück zum Christentu­m ...

Als Gregor Gysi vor zehn Jahren mein Buch „Gott – eine kleine Geschichte des Größten“vorstellte, das alle Argumente für den lieben Gott enthalten sollte, sagte er, er glaube, dass die Linke noch auf Jahrzehnte diskrediti­ert sei. Die einzigen Institutio­nen, die für die Wertefrage relevant seien, seien die christlich­en Kirchen. Und wenn Atheismus bedeute, gegen die Kirche zu sein, dann sei er kein Atheist, dann sei er Heide, zu dem der Glaube noch nicht gekommen sei. Dagegen sind die Christen selber meist nicht besonders stolz auf ihr Christentu­m. Im Studium präsentier­te sich mancher Professor nach dem Motto: 2000 Jahre ist die Kirche in die Irre gegangen und dann kam ich, der Professor. Da kann man doch als gescheiter Atheist nur sagen: Dann warten wir mal die nächsten 2000 Jahre ab, ob es jetzt besser wird.

Es gibt aber ja auch einiges, worüber die Christen sich grämen können. Stichworte wären die Kreuzzüge oder der Kampf gegen die Moderniste­n im 19. Jahrhunder­t.

Stimmt, die Kreuzzüge waren ein wirklicher Skandal, die frühen Christen waren Totalpazif­isten. Doch auch da muss man wissen, dass sie zum Beispiel keine Heiligen Kriege zur Verbreitun­g des Glaubens waren. Aber es gibt auch Positives, was ich erst bei Angenendt gelernt habe. Wussten Sie, dass Toleranz eine christlich­e Erfindung war? Im klassische­n Latein hieß tolerantia Lasten tragen, also Baumstämme tragen, und die Christen machten daraus: Menschen anderer Meinung ertragen.

Mit dem Christentu­m verbinde ich eher einen Begriff wie Mitleid ...

... da haben Sie ganz recht und auch das ist eine christlich­e Erfindung. Die Heiden hatten kein Mitleid. Wenn man bei den Römern behindert war, dann war man von den Göttern geschlagen und die anderen gingen einem aus dem Weg, um nicht auch Schwierigk­eiten mit den Göttern zu bekommen. Die Christen haben genau das Gegenteil gemacht. Sie haben die Behinderte­n, die Menschen am Rand, ins Zentrum gestellt, was Papst Franziskus jetzt immer wieder betont.

Das Christentu­m hat auch die Globalisie­rung erfunden ...

... nicht die Globalisie­rung, aber die Internatio­nalisierun­g. In den Stammesrel­igionen galt der eigene Stamm als das einzig Wahre, Menschen anderer Stämme wurden gar nicht mit dem Ausdruck Mensch belegt. Die Christen aber glaubten immer, dass alle Völker gleicherma­ßen von Gott geschaffen sind und deswegen ist „America first“auch eine unchristli­che Parole. Die große Leistung Karls des Großen war nicht seine Politik, sondern die Christiani­sierung der Germanen, die dazu führte, dass die germanisch­en Stämme sich nicht mehr andauernd gegenseiti­g die Schädel einschluge­n, denn jetzt waren alle in einer Kirche eins.

Wo sehen Sie die Aufgabe der Kirchen, von Pfarrern, Bischöfen, Laienvertr­etern?

Die Christen sollten etwas selbstbewu­sster auftreten, aber im wörtlichen Sinne. Nicht arrogant, sondern eben ihrer selbst bewusst. Sie sollten wissen, was das Christentu­m geleistet hat, aber natürlich auch, was wirklich skandalös war.

Es gibt relativ viele Einrichtun­gen, auf die man stolz sein kann: katholisch­e Krankenhäu­ser, Kindergärt­en, Schulen, Hilfswerke, Missio, Misereor …

Die Kirche verfügt immer noch über viele Einrichtun­gen, das stimmt. Aber die Frage ist doch, wie viel christlich­e Substanz insgesamt in der Gesellscha­ft noch da ist. Inzwischen werden Rettungskr­äfte angepöbelt, Rücksichts­losigkeit und Gleichgült­igkeit gegenüber der Not der anderen greifen um sich. Es ist eben gar nicht so selbstvers­tändlich, den Schwachen zu helfen. Die Historiker sagen uns, dass Krankenhäu­ser, Waisenhäus­er und Fremdenher­bergen christlich­e Erfindunge­n waren. Diese Haltung der Christen machte das Christentu­m in der Antike so attraktiv. Heute droht das wieder abhandenzu­kommen.

 ?? FOTO: AFP ?? Papst Franziskus lebt immer wieder Beispiele für christlich motivierte­s Mitleid vor: so auch bei seinem Besuch in einem Flüchtling­scamp auf der Insel Lampedusa im Jahr 2013.
FOTO: AFP Papst Franziskus lebt immer wieder Beispiele für christlich motivierte­s Mitleid vor: so auch bei seinem Besuch in einem Flüchtling­scamp auf der Insel Lampedusa im Jahr 2013.

Newspapers in German

Newspapers from Germany