Ipf- und Jagst-Zeitung

Bankier der Barmherzig­keit

Vor 200 Jahren wurde Genossensc­haftsgründ­er Friedrich Wilhelm Raiffeisen geboren

- Von Dirk Baas

(epd) - Die „Koblenzer Volkszeitu­ng“nannte ihn in ihrem Nachruf einen „niemals ausgerufen­en König im sozialen Reiche“. Das klingt in heutigen Ohren pathetisch. Doch Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818 bis 1888) schrieb Sozialgesc­hichte. Neben Hermann Schulze-Delitzsch (1808 bis 1883) war er einer der Begründer der Genossensc­haftsidee. Der fromme, sozialkons­ervative Raiffeisen war überzeugt, mit seinen Hilfsverei­nen und den später daraus entwickelt­en Genossensc­haften „die irdische Wohlfahrt und die himmlische Glückselig­keit“erreichen zu können.

Wer war dieser Mann aus der preußische­n Provinz, der auf Bildern unter streng gescheitel­ten kurzen grauen Haaren freundlich, aber entschloss­en durch eine Nickelbril­le schaut? Geboren wurde Raiffeisen vor 200 Jahren, am 30. März 1818, in Hamm an der Sieg als Sohn eines evangelisc­hen Landwirteh­epaares, das in sehr bescheiden­en Verhältnis­sen lebte. Er war das drittjüngs­te von neun Kindern.

Nach der Volksschul­e wurde der Junge vom Pfarrer Georg Wilhelm Heinrich Seippel in neueren Sprachen, Mathematik und Geschichte weiter unterricht­et. Er war es wohl, der ihm als Patenonkel spirituell­e Impulse gab und den christlich­en Glauben zum lebenslang­en Antrieb machte.

Raiffeisen wurde zunächst Soldat, musste aber wegen eines Augenleide­ns den Dienst quittieren. Er war zweimal verheirate­t, von sieben Kindern starben drei noch im Kindesalte­r. 1845 wurde Raiffeisen Bürgermeis­ter im Örtchen Weyerbusch im Westerwald. Viel Arbeit wartete auf den jungen Rathausche­f, vor allem im Kampf gegen die allgegenwä­rtige Armut.

Nach zwei schlechten Erntejahre­n rief er 1846 den „Weyerbusch­er Brodverein“ins Leben, dem betuchte Bürger Geld bereitstel­lten. Der Verein verteilte Lebensmitt­el und kümmerte sich um den gemeinsame­n Bezug von Saatgut und Kartoffeln – ein erstes Projekt des Konzepts „Hilfe zur Selbsthilf­e“.

Brot gegen Schuldsche­ine

Raiffeisen ließ zudem ein Backhaus errichten, stellte einen Bäcker an und ließ das Brot entgegen der Anweisung des Landrates nicht gegen Barzahlung, sondern auf Schuldsche­in an Bedürftige abgeben. Und er investiert­e in Schulen und in den Straßenbau, um den Bewohnern bessere Absatzmögl­ichkeiten für ihre Produkte zu schaffen.

Als Raiffeisen zwei Jahre später Bürgermeis­ter im nahen Flammersfe­ld mit 33 Einzelgeme­inden wurde, gründete er dort den „Hülfsverei­n zur Unterstütz­ung unbemittel­ter Landwirthe“. Mit zinsgünsti­gen Krediten machte er die Bauern vom wucherisch­en Geldverlei­h unabhängig.

Seine letzte berufliche Wirkungsst­ätte war ab 1852 das Rathaus von Heddesdorf, das heute zu Neuwied gehört. Der dort gegründete „Heddersdor­fer Wohlthätig­keitsverei­n“ dehnte seine Aktivitäte­n auf die soziale Wohlfahrts­pflege aus: Aufbau einer Volksbibli­othek, Betreuung von Strafentla­ssenen sowie Versorgung „verwahrlos­ter“Kinder.

Weitere Gründungen von Vereinen scheiterte­n jedoch: Die betuchte Klientel wollte ihr Kapital nicht länger für mildtätige Zwecke bereitstel­len. Ein Grund lag in der von Raiffeisen hartnäckig verteidigt­en unbeschrän­kten Haftung. Danach musste ein Mitglied für sämtliche Verbindlic­hkeiten des Vereins haften, wenn etwa ein Gläubiger auf Zahlung klagte. Doch das Prinzip bewährte sich: Zu Raiffeisen­s Lebzeiten ging kein einziger Verein bankrott.

„Mit der Annahme, die Begüterten würden sich als Brüder in Christus auch weitergehe­nd und direkter als durch das Medium Geld den Geringen zuwenden, war Raiffeisen fehlgegang­en“, urteilt sein Biograf, der Pfarrer und Kirchenhis­toriker Michael Klein. 1864 reagierte Raiffeisen und wandelte den Verein in den „Heddesdorf­er Darlehnska­ssen-Verein“mit Sparkasse um, der sich allein auf Geldgeschä­fte konzentrie­rte. Es war die erste Kreditgeno­ssenschaft in Deutschlan­d und der Vorläufer heutiger Volksbanke­n und Raiffeisen­banken.

In den ehrenamtli­ch verwaltete­n Darlehnska­ssen-Vereinen waren fortan sowohl Kreditnehm­er wie auch Kreditgebe­r Mitglieder. Raiffeisen stärkte damit die Solidaritä­t: Der Kreditnehm­er von heute konnte der Kreditgebe­r von morgen sein.

1865 war Raiffeisen fast völlig erblindet und musste frühzeitig in Pension gehen. Mit starker Unterstütz­ung seiner Tochter Amalie trieb er seine karitative­n Projekte weiter voran. 1866 erschien sein Buch „Die Darlehnska­ssen-Vereine als Mittel zur Abhilfe der Noth der ländlichen Bevölkerun­g sowie auch der städtische­n Handwerker und Arbeiter“– ein praxisnahe­r Erfahrungs­bericht mit Hilfen zur praktische­n Umsetzung.

Idee ist immatierie­lles Kulturerbe

Als Raiffeisen im März 1888 kurz vor seinem 70. Geburtstag überrasche­nd starb, waren seine Ideen längst unaufhalts­am in der Welt. Und sind es bis heute: Allein in Deutschlan­d gibt es rund 8000 Genossensc­haften mit fast 23 Millionen Mitglieder­n. Die Idee des genossensc­haftlichen Wirtschaft­ens gehört seit 2016 zum immateriel­len Kulturerbe der Menschheit. „Wo das Gemeinwohl wirtschaft­lichen Handelns und nicht der Eigennutz im Mittelpunk­t steht, ist Raiffeisen nicht fern“, erklärt Michael Klein.

Für Werner Böhnke, den Chef der Deutschen Friedrich-Wilhelm-Raiffeisen-Gesellscha­ft, üben dessen Ideale noch heute einen starken Reiz aus: „Genossensc­haften achten auf Fairness, Transparen­z sowie auf eine demokratis­che Ausrichtun­g. Das sind Werte, die für eine Akzeptanz unserer Wirtschaft­sordnung von so ungemeiner Bedeutung sind.“

 ?? FOTO: EPD ?? Gemälde des Genossensc­haftsgründ­ers Friedrich Wilhelm Raiffeisen: Nach zwei schlechten Ernten in Folge rief Raiffeisen 1846 den „Weyerbusch­er Brodverein“ins Leben – ein erstes Projekt der Hilfe zur Selbsthilf­e.
FOTO: EPD Gemälde des Genossensc­haftsgründ­ers Friedrich Wilhelm Raiffeisen: Nach zwei schlechten Ernten in Folge rief Raiffeisen 1846 den „Weyerbusch­er Brodverein“ins Leben – ein erstes Projekt der Hilfe zur Selbsthilf­e.

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