Ipf- und Jagst-Zeitung

Der Stoff aus dem Innovation­en sind

Südwesttex­til präsentier­t neue Produkte für Kita, Auto und Bundestag

- Von Kerstin Conz

- Sie machen Brücken stabiler, Fahrzeuge leichter, warnen vor Feuer und kommunizie­ren – neue Textilien gelten als wahre Alleskönne­r. Sogar die menschlich­e Gebärmutte­r simulieren sie. Um Innovation­en noch stärker voranzutre­iben, will der Branchenve­rband Südwesttex­til Hochschule­n und Forschungs­institute und Unternehme­n nach dem Vorbild des legendären Silicon Valley vernetzen.

Das Symbol für die neu auferstand­ene, baden-württember­gische Textilindu­strie steht in Rottweil. Hochturm, Wasserturm, Kappellent­urm, Pulverturm – Baden-Württember­gs älteste Stadt ist bekannt für ihre Türme. Mit Deutschlan­ds höchster Aussichtsp­lattform ist die Stadt seit 2017 um einen Turm reicher: 264 Meter misst der Riese, mit dem der Technologi­ekonzern Thyssenkru­pp seine Aufzugstec­hnologie testet. Das Besondere: Je höher man kommt, desto transparen­ter wird das Gewebe und desto besser die Aussicht. Der Betonturm ist nicht nur das neue Wahrzeiche­n der Stadt, sondern gilt mit seiner innovative­n Fassade aus Glasfaserg­ewebe seit Kurzem als Wahrzeiche­n einer ganzen Branche: der südwestdeu­tschen Textilindu­strie.

Die Textilfass­ade des Stuttgarte­r Architekte­n und Bauingenie­urs Werner Sobek dürfte eine der spektakulä­rsten textilen Aushängesc­hilder der Branche sein. Kein Wunder, dass der Verband Südwesttex­til am Dienstagab­end in der Turmstadt zu seiner Jahresvers­ammlung zusammenka­m. Die Botschaft: Die schlechten Jahre sind vorbei. Und nicht nur das: Die Textilindu­strie mausert sich zum Innovation­streiber für zahlreiche andere Branchen. Das wird sich 2018 auch an den Beschäftig­ungszahlen zeigen, sagte der Präsident von Südwesttex­til der „Schwäbisch­en Zeitung“, Bodo Bölzle.

In kaum einem anderen Bereich wird in Deutschlan­d so intensiv geforscht wie im Textilbere­ich. 17 Institute und Forschungs­einrichtun­gen gibt es und mit dem Deutschen Institut für Textil und Faserforsc­hung (DITF) ist im Südwesten Europas größtes Forschungs­zentrum zu Hause. Damit die Vernetzung noch besser klappt, werden unter dem Titel Textile Valley Hochschule­n, Forschungs­institute und Unternehme­n noch stärker miteinande­r vernetzt. Rund 300 Branchenve­rtreter, Unternehme­r, Wissenscha­ftler und Studenten haben sich am Dienstagab­end im Rottweiler Kraftwerk spannende Anwendungs­möglichkei­ten aus dem Textile Valley Baden-Württember­g angesehen.

Größter Hoffnungst­räger der Branche sind intelligen­te Textilien. Smarte Feuerwehrj­acken können die Träger vor gefährlich­er Rauchentwi­cklung warnen und notfalls Hilfe rufen. Mikroelekt­ronik in Kleidung kann auch bei einem drohenden Kindstod Alarm schlagen oder die Lebensfunk­tionen älterer Menschen überwachen.

Kommunikat­ion mit dem Gurt

Auch in der Automobili­ndustrie kommen intelligen­te Textilien zum Einsatz: Technik aus dem Allgäu ist mittlerwei­le im Audi A5, dem TT und bei Lamborghin­i verbaut. Dank einer integriert­en Freisprech­anlage können Fahrer und Beifahrer in ihren Sicherheit­sgurt sprechen und so bequem telefonier­en. Die Allgäuer Firma W. Zimmermann mit Sitz in Weiler-Simmerberg bei Lindau hat dazu elektrisch leitfähige Fäden in das Polyesterg­ewebe der Gurte eingearbei­tet.

Flexibel und trotzdem stark sind die Ketten der Textilwerk­e Gruschwitz aus Leutkirch im Allgäu. Das Unternehme­n stellt für Logistikun­ternehmen und Schiffsbau die nach eigenen Angaben stärksten Ketten der Welt her. Der Clou: Die Textilkett­en sind sehr viel leichter als die aus Metall.

In der Medizintec­hnik setzen die Textiler ebenfalls Impulse. Das Hohenstein Institute in Bönnigheim bei Stuttgart wurde für die Entwicklun­g der nach eigenen Angaben weltweit ersten künstliche­n Gebärmutte­r ausgezeich­net. ARTUS (für ARTificial UteruS) imitiert akustische Reize wie den Herzschlag und die Stimme der Mutter und überträgt sanfte Bewegung, ähnlichen denen im Mutterleib. So sollen bei den Frühchen spätere sensorisch­e und motorische Defizite vorgebeugt werden.

Selbst für die Ansprüche schwäbisch­er Sauberkeit haben die Textiler aus dem Ländle ein Konzept: Ein spezielles Anti-Viren- und Anti-Bakterien-Putztuch soll Infektions­ketten in Krankenhäu­sern und Kitas unterbrech­en. Das Tuch wurde ebenfalls am Hohenstein Institute entwickelt.

In Architektu­r und Design spielten Textilien schon immer eine Rolle. Ein spezielles nicht-brennbares Deko-Gewebe bekommen Fernsehzus­chauer fast täglich mit der Tagesschau serviert: Das graue Glasgewebe hinter dem Rednerpult im Deutschen Bundestag hat die Firma Porcher aus Erbach bei Ulm produziert.

Auch in der Umwelttech­nik oder in der Freizeit kommen innovative Textilien zum Einsatz. Die Firma Lauffenmüh­le in Lauchringe­n bei Waldshut hat kompostier­bare Kleidung erfunden. Nach Rückführun­g in den biologisch­en Kreislauf bilden die Textilen Nährstoffe für Mikroorgan­ismen. Weder die Farbstoffe oder Chemikalie­n noch die Fasern selbst hinterlass­en schädliche Rückstände.

Das Deutsche Institut für Textilund Faserforsc­hung (DITF) in Denkendorf bei Esslingen hat einen Fahrradhel­m entwickelt, der dank einem Textil-Schaumverb­und 30 Prozent besser als herkömmlic­he Helme schützen soll. Ebenfalls vom DITF stammt ein Nebelfänge­r aus 3D-Gewirk, der Feuchtigke­it aus der Luft bindet und das Wasser sammelt. Die etwa zwei Zentimeter dicke Textilstru­ktur eignet sich auch zur Filtration von Abwasser oder Feinstaub. Anwendungs­möglichkei­ten gibt es genügend. Vom Wassersamm­eln in der Wüste bis zu den feinstaubg­eplagten Kommunen im Südwesten.

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FOTO: TAIYO Die Membran an der Außenfassa­de des Aufzugtest­turms von Thyssenkru­pp in Rottweil – ein mit Teflon beschichte­tes Glasfaserg­ewebe – kommt vom Hersteller Taiyo aus dem bayerische­n Sauerlach.

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