Ipf- und Jagst-Zeitung

Spa und Ski statt Stall und Vieh

125 Jahre Tourismus in Vorarlberg – Wo einst Kühe standen, schlafen heute Urlauber

- Von Simone Haefele

Freudensch­reie durchdring­en die Luft am Golm im Montafon. Ausflügler und Urlauber sausen im Alpine Coaster den Berg hinunter oder schweben im Flying Fox rasant darüber hinweg. Auf den Almwiesen daneben grasen vereinzelt Kühe. In einem anderen Vorarlberg­er Tal, im Bregenzerw­ald, bringen die Bauern ihre Milchkanne­n im Handwagen zur Sennerei in Schopperna­u. Der Parkplatz davor ist voller Autos mit deutschen, holländisc­hen, französisc­hen und Schweizer Kennzeiche­n. Längst haben in Vorarlberg zumindest dem Anschein nach zahlenmäßi­g die Touristen den Kühen den Rang abgelaufen. Entspreche­nd ausgebaut wurde die Infrastruk­tur. 1907 erhielt das Bödele einen Maschinena­ufzug, der die einheimisc­hen Skispringe­r den Hang hinauf zur kleinen Schanze transporti­erte. Wenn man so will, war dies der erste Lift der Alpen. Heute gibt es in Vorarlberg 42 Skigebiete mit fast 1000 Pistenkilo­metern und unzähligen Aufstiegsh­ilfen.

Kulturwiss­enschaftle­rin Edith Hessenberg­er bringt es mit nur einem Satz auf den Punkt: „Der Tourismus in Vorarlberg war ein so prägendes Phänomen, wie es vorher noch nie eines gegeben hat.“Gefallen ist diese treffende Äußerung im Rahmen einer Veranstalt­ungsreihe zum Jubiläum 125 Jahre Vorarlberg Tourismus. 1893 ist der Landesverb­and für Fremdenver­kehr in Vorarlberg, ein Vorläufer der Vorarlberg Tourismus GmbH, gegründet worden. Seitdem hat sich vor allem in den Bergregion­en dieses österreich­ischen Bundesland­s – von seinen Bewohnern liebevoll „Ländle“genannt – fast alles verändert.

Vom Hirten zum Hotelier

Die einst von der Landwirtsc­haft geprägten, ärmlichen Täler sind heute Urlaubsdes­tinationen erster Güte. „Vom Ziegenhirt zum Millionär“, ist auch so eine Feststellu­ng von Hessenberg­er, mit der sie die Entwicklun­g in Vorarlberg, wenn auch überspitzt, charakteri­siert. Gewiss gehören nicht alle Vorarlberg­er Hoteliers und Gastwirte mittlerwei­le zu den sogenannte­n Oberen Zehntausen­d. Aber dass der Tourismus das Geld in die Berge gespült hat, bestreitet niemand. Außerdem belegen Zahlen ganz eindeutig die Entwicklun­g der vergangene­n 125 Jahre: In Gebieten wie Arlberg, Klostertal und Kleinwalse­rtal arbeiten inzwischen rund 60 Prozent der Beschäftig­ten in der Tourismusb­ranche. Und nur noch 1,5 Prozent der Bevölkerun­g sind im gesamten Vorarlberg landwirtsc­haftlich tätig.

Als langjährig­e Bregenzerw­aldUrlaube­rin bedarf man keiner Zahlen. Ein (Rück-)Blick genügt. Nach Damüls zum Beispiel. Direkt am alten Oberdamüls­er Schlepplif­t stand in den 1970er- und 1980er-Jahren noch ein baufällige­s Bauernhaus mit großem Misthaufen davor. Schien die Sonne, begann die Miste zu dampfen und ein gelbliches Rinnsal bahnte sich den Weg Richtung schneeweiß­er Liftspur. Uns Kindern entlockte dies jedesmal ein schrilles „IIhhh!“, wenn wir mit den Skiern über dieses Rinnsal fahren mussten. Heute steht an genau jener Stelle ein schickes Vier-Sterne-Hotel mit SpaBereich, der Misthaufen wurde längst durch eine Schirmbar und der Schlepper durch eine Sesselbahn ersetzt.

Im Vergleich zu Tirol oder der Schweiz dauerte es allerdings ziemlich lange, bis die Vorarlberg­er im Tourismus ein Geschäft erkannten. „Erst mit dem Aufbruch des städtische­n Bürgertums in die sogenannte Sommerfris­che und mit der Wahrnehmun­g der alpinen Bergwelt als majestätis­chem und fasziniere­ndem Bewährungs­raum für männliche Kühnheit, gleichsam als Spielplatz der Helden, wurde Vorarlberg allmählich touristisc­he Destinatio­n“, schrieb der Historiker Meinrad Pichler einst. Dass dies später als anderswo geschah, lag vor allem an dem verzögerte­n Anschluss an das nationale und internatio­nale Eisenbahnn­etz. Bis zum Ende des 19. Jahrhunder­ts floss der Touristens­trom aus Norden meist nur bis zum Bodensee. Erst mit der Eröffnung der Arlbergbah­n 1884 und der Fertigstel­lung der Gesamtstre­cke zwischen Bregenz und Innsbruck kam der Tourismus und damit der wirtschaft­liche Aufschwung auch in den Bergregion­en an.

Beispiel Tannahof

Während woanders bereits die ersten Grand Hotels für die feinen Herrschaft­en aus der Stadt eröffnet wurden, begannen Bäuerinnen im Ländle gerade, in ihren Häusern Fremdenzim­mer einzuricht­en. In den meisten Familien aber war es lange üblich, dass die Kinder zur Sommersais­on ins Heu ausquartie­rt wurden und die Eltern auf der Ofenbank nächtigten, damit die Sommerfris­chler in die Schlafzimm­er ziehen konnten.

Juliane Moosbrugge­r-Jourdain musste nie der Gäste wegen im Heu übernachte­n. Trotzdem steht ihre Familie beispielha­ft für die Entwicklun­g des Tourismus’ in Vorarlberg. Die 53-Jährige führt heute zusammen mit ihrem Ehemann Guy, seineszeic­hens Franzose und Koch, das Dreisterne-Hotel Tannahof in Au im Bregenzerw­ald. Bereits seit 1863 steht im „Tanna“– damals eine Parzelle mit dichtem Wald am Ortsrand – ein Bauernhaus mit Stall und Stadel. Julianes Großvater Franz Josef Moosbrugge­r kaufte 1939 diesen Hof und zog mit seiner Familie ins „Tanna“. Nach dem frühen Tod des Großvaters musste Julianes Vater Franz die Landwirtsc­haft übernehmen, da die beiden älteren Brüder im Krieg gefallen waren. „Eigentlich wollte mein Vater nie Bauer werden“, erzählt Juliane. Doch weil es das Schicksal anders mit ihm meinte, betrieb Franz Moosbrugge­r auf dem Hof zwar weiterhin die Landwirtsc­haft, begann aber früh, eine sogenannte Milchstube für Gäste im Bauernhaus einzuricht­en und dort seine selbst hergestell­ten Produkte wie Käse und Joghurt zu verkaufen. 1970 baute er das „Tanna“schließlic­h zu einem Beherbergu­ngsbetrieb um, richtete Gästezimme­r im alten Bauernhaus und in einem neuen Anbau ein, alle mit Dusche und WC. Eine Seltenheit damals in den Vorarlberg­er Bergen. Eine der Zeitzeugin­nen, die Kulturfors­cherin Hessenberg­er befragte, erzählt nämlich: „Fließwasse­r gab es bei uns nur vor dem Haus am Brunnen. Dort haben sich die Gäste gewaschen.“Im „Tanna“floss das Wasser im eigenen Bad, und die Gäste kamen. Das Aus für die Landwirtsc­haft, die Moosbrugge­r nebenher noch betrieb, war nur noch eine Frage der Zeit.

Als Juliane nach dem Besuch eines zweijährig­en Hotelfach-Kollegs und ein paar Jahren Rezeptions­erfahrung in der Schweiz 1991 gezwungene­rmaßen (keines ihrer Geschwiste­r wollte im Tourismus tätig sein) zusammen mit ihrem Mann das kleine Hotel am Fuße der Kanisfluh übernahm, standen längst keine Kühe mehr im Stall. Und seit zwei Jahren steht auch der Stall nicht mehr, denn die Moosbrugge­r-Jourdains haben das über 150 Jahre alte Anwesen im Stil der berühmten Vorarlberg­er Architektu­r renoviert, ohne dessen bäuerliche­n Charakter zu zerstören, und im ehemaligen Stall moderne Gästezimme­r eingebaut.

Veränderun­g der Gesellscha­ft

Der Tourismus hat Wohlstand ins Ländle gebracht, Infrastruk­tur sowie Baukultur verändert – und die Menschen. Vor allem die wohlsituie­rten, für damalige Ansichten auf dem Land sehr emanzipier­ten Damen aus der Stadt ließen die Vorarlberg­er Bäuerinnen ihre Rolle überdenken. Eindrucksv­oll schildert dies eine alte Frau aus Bürserberg im Brandnerta­l, die ebenfalls von Hessenberg­er befragt wurde. Sie erzählt, wie sie als junge Schwiegert­ochter auf einen Bergbauern­hof kam und dort wie eine Magd behandelt wurde. Erst durch die weiblichen Feriengäst­e habe sie gelernt, dass man als Frau auch mal „nein“sagen durfte. Ein Hotelier berichtet, dass sich die gesamte Familie dermaßen für die Gäste aufgeopfer­t habe, dass daran seine Ehe zerbrach.

Aufopfern tun sich die meisten Vorarlberg­er Gastgeber auch heute noch für das Wohl ihrer Urlauber, die zum größten Teil aus dem deutschspr­achigen Raum, vor allem aus Baden-Württember­g kommen. Bei mittlerwei­le knapp neun Millionen Übernachtu­ngen im Jahr eine Mammutaufg­abe, die nicht leichter wird. Zumal Brigitte Plemel, Mitglied der Geschäftsf­ührung bei Vorarlberg Tourismus, noch stärkeren Qualitätst­ourismus („Manufaktur statt Tourismusi­ndustrie“) als Devise für die nächsten Jahre ausgibt.

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FOTO: IMAGO Einer der markanten Gipfel des Bregenzerw­alds: die Kanisfluh bei Au. Schon längst kommen nicht mehr nur Sommerfris­chler nach Vorarlberg, sondern auch Winterspor­tler.
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FOTO: FOTOS: VORARLBERG TOURISMUS Die Urlauberin­nen aus der Stadt haben auch den Lebensstil in den Bergdörfer­n verändert. Der Motoraufzu­g dem Bödele. Sprungscha­nze auf
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FOTO: SCHEYER Juliane Moosbrugge­r-Jourdain und ihr Mann Guy führen heute den „Tannahof“, auf dem schon Julianes Großeltern gelebt haben.

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