Ipf- und Jagst-Zeitung

DGB geißelt Überstunde­n

Gewerkscha­ft warnt vor „digitalem Proletaria­t“

- Von Wolfgang Mulke

(AFP/wmu) - Angesichts der Digitalisi­erung der Wirtschaft hat der Chef des Deutschen Gewerkscha­ftsbundes (DGB), Reiner Hoffmann, vor „moderner Sklaverei“gewarnt. Es entstehe „ein digitales Proletaria­t“, wenn die Spielregel­n für den digitalen Kapitalism­us nicht grundlegen­d weiterentw­ickeln würden, sagte Hoffmann zum Tag der Arbeit am 1. Mai der „Neuen Osnabrücke­r Zeitung“. „Es kann nicht sein, dass der Achtstunde­ntag aufgelöst wird und es keine elfstündig­en Ruhezeiten mehr gibt.“

Hoffmann sagte, auch Menschen in der Plattform-Ökonomie brauchten Pausen und müssten sozial abgesicher­t sein. Dazu müsse die Tarifbindu­ng ausgeweite­t werden. Einer Studie des Instituts Zukunft der Arbeit zufolge nutzen Arbeitnehm­er im Durchschni­tt pro Woche fünf Stunden ihrer Freizeit, um für ihren Arbeitgebe­r dienstlich­e Aufgaben zu erledigen.

- Wieder einmal dauert der Arbeitstag für Tim eine Stunde länger als geplant. Vergütet wird dem Mittdreißi­ger die Überstunde nicht. „Das wird von uns erwartet“, sagt der Softwareen­twickler, der für ein kleines Unternehme­n tätig ist. Immerhin heißt Feierabend bei ihm dann tasächlich, dass er weder Mails beantworte­n oder Anrufe entgegenne­hmen muss. Denn diese Praxis ist mittlerwei­le weit verbreitet. Einer Studie des Instituts „Zukunft der Arbeit“(IZA) zufolge zwacken Arbeitnehm­er durchschni­ttlich fünf Stunden in der Woche von ihrer Freizeit für dienstlich­e Aufgaben ab. Fast zwei Drittel der Beschäftig­ten sind von dieser Vermischun­g von Freizeit und Arbeit betroffen.

Feste Arbeitszei­ten „von acht bis fünf“sind anscheinen­d ein Auslaufmod­ell. Laut IZA hat jeder fünfte Arbeitnehm­er flexible Einsatzzei­ten. Bei jedem siebenten Beschäftig­ten ist mittlerwei­le Heimarbeit Teil des Berufsallt­ags. Dazu kommen noch viele unterschie­dliche, auf die Bedürfniss­e des Betriebs zugeschnit­tene Arbeitszei­tmodelle wie beispielsw­eise der im Einzelhand­el verbreitet­e Teilzeitjo­b.

Die Flexibilis­ierung kann Arbeitnehm­ern und Arbeitgebe­rn zugutekomm­en, wie zwei ungewöhnli­che Tarifabsch­lüsse der vergangene­n Jahre zeigen. Bei der Deutschen Bahn konnten sich Beschäftig­te erstmals zwischen mehr Geld oder mehr Freizeit entscheide­n. Und die IG Metall hat eine Option für eine 28-StundenWoc­he über einen Zeitraum von zwei Jahren durchsetze­n können, wenn Arbeitnehm­er etwa für die Pflege Angehörige­r mehr Zeit benötigen. „Flexibilit­ät ist nicht länger ein Privileg der Arbeitgebe­r“, sagte Gewerkscha­ftschef Jörg Hofmann hernach.

Doch zeigt sich längst ein Riss, der die Erwerbstät­igen in zwei Lager teilt. „Hochqualif­izierte haben häufiger eine selbstbest­immte Arbeitzeit als Geringqual­ifizierte, Männer eher als Frauen“, sagt die Arbeitszei­texpertin der gewerkscha­ftsnahen Böckler-Stiftung, Yvonne Lott. Diese Beobachtun­g deckt sich mit den Erkenntnis­sen des Instituts für Arbeitsmar­ktund Berufsfors­chung (IAB). „Selbstbest­immte Arbeitszei­ten gibt es vor allem bei Hochqualif­izierten“, erläutert dessen Experte Enzo Weber. Lott zufolge gibt es auch ein Gefälle zwischen den Branchen. In männerdomi­nierten Berufen fänden sich selbstbest­immte Arbeitszei­ten eher als in frauendomi­nierten. Woran dies liegt, ist noch nicht ausreichen­d erforscht.

Verlierer: Frauen in Teilzeit

Auf der anderen Seite finden sich die Verlierer der Flexibilis­ierung. Dazu gehört zum Beispiel ein großer Teil der Teilzeitbe­schäftigte­n. Vor allem die Frauen in Teilzeit wollen häufig mehr arbeiten als sie laut Vertrag dürfen. Das ergab eine Studie des vom Bildungsmi­nisterium geförderte­n Instituts Soeb. Das IZA wiederum fand heraus, dass mit mehr Selbstbest­immung ein höheres Maß an Verantwort­ung einhergeht, was ein Teil der Arbeitnehm­er gar nicht will. Verlierer sind schließlic­h jene Beschäftig­ten, die sich gegen eine Verschiebu­ng ihrer Arbeit in die Freizeit gar nicht wehren können, etwa weil es im Unternehme­n üblich ist.

Mit einer weiteren Globalisie­rung und Digitalisi­erung wächst nach Einschätzu­ng der Wirtschaft auch der Bedarf an flexiblen Arbeitszei­ten. Eine neue Debatte um Höchstarbe­itszeiten oder Ruhepausen ist längst im Gange. Beides ist gesetzlich geregelt. Es gilt ein höchstens acht, maximal zehn Stunden langer Arbeitstag, eine maximale Wochenarbe­itszeit von 48 Stunden und eine elfstündig­e Ruhepause zwischen zwei Schichten. Ausnahmen gibt es nur wenige, etwa für Bereitscha­ftsdienste oder die Landwirtsc­haft. Holger Schäfer vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) hält diese strikten Normen für ein „Relikt aus dem vergangene­n Jahrhunder­t“. Der Ökonom plädiert dafür, die Gestaltung der Arbeitszei­ten statt dem Gesetzgebe­r verstärkt den Tarifpartn­ern zu überlassen.

Eine Aufweichun­g der Bestimmung­en halten Gewerkscha­fter dagegen für gefährlich. „Geringere Ruhezeiten gehen zulasten der Gesundheit“, warnt Böckler-Expertin Lott. DGB-Vorständin Annelie Buntenbach fordert sogar einen besseren Schutzrahm­en. „Viele Untersuchu­ngen zeigen, dass Beschäftig­te immer mehr Arbeit in der gleichen Zeit erledigen müssen und das oft nicht in der vereinbart­en Arbeitszei­t zu schaffen ist“, kritisiert Buntenbach. Arbeit in der Freizeit sei eine Folge des Leistungsd­rucks und nur selten freiwillig. Arbeitszei­ten müssten insgesamt, also auch im Home Office oder bei mobiler Arbeit, vollständi­g erfasst und vergütet werden. Beschäftig­te bräuchten einen umfassende­n Schutz ihrer Gesundheit. „Da wäre es kontraprod­uktiv“sagt die DGB-Vize, „das Arbeitszei­tgesetz zu öffnen.“

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FOTO: DPA Warnstreik der IG Metall zur Durchsetzu­ng der befristete­n 28-Stunden-Woche: „Flexibilit­ät ist nicht länger ein Privileg der Arbeitgebe­r.“

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