Grandios zelebrierter Wahnsinn
Eine Rarität ausgegraben: Vincenzo Bellinis Oper „Il pirata“am Theater St. Gallen in einer gelungenen Inszenierung
ST. GALLEN - Im Gegensatz zu seiner Oper „Norma“wird Vincenzo Bellinis vier Jahre vorher entstandenes Musikdrama „Il pirata“(„Der Pirat“) selten aufgeführt. Dem sizilianischen Komponisten verhalf die Uraufführung dieses Zweiakters an der Mailänder Scala 1827 zum Durchbruch. Am Theater St. Gallen steht das Stück, das seinerzeit auf die effektvolle Verbindung von Belcanto und in Mode kommender Schauerromantik setzte, jetzt überhaupt das erste Mal auf dem Spielplan. Die gelungene Produktion erntet begeisterten Beifall.
Das Libretto des erfahrenen Theaterdichters Felice Romani basiert auf einem englischen Gruselstück von Robert Maturin und dessen französischer Bearbeitung „Bertram ou Le Pirate“von Charles Nodier und Isidor Taylor. Schon vor Bellinis Vertonung hatte Goethe an der Vorlage „Übertriebenheiten“moniert. Die finstere Handlung erinnerte ihn an fantastische Geschichten von E.T.A. Hoffmann, von denen er bekanntlich ebenfalls nicht viel hielt. Wie seine Vorlagen gerät auch Romanis Libretto mehrfach in die Nähe trivialer Kolportage.
Der Pirat Gualtiero und sein Begleiter Itulbo werden von einem Seesturm an den Strand von Sizilien geworfen. Von dort war Gualtiero zehn Jahre vorher infolge eines Machtwechsels verbannt worden. Seine damalige Geliebte Imogene, die er zurücklassen musste, wurde gezwungen, den neuen Machthaber Ernesto zu heiraten. Nur so konnte sie ihren Vater retten. Inzwischen hat sie mit Ernesto einen Sohn. Gualtieros früherer Erzieher Goffredo findet die Schiffbrüchigen und versucht, ein Treffen des einstigen Liebespaars zu verhindern.
Gualtiero erkennt Imogene, drängt auf eine Aussprache und ist empört über ihre Heirat mit seinem Erzfeind Ernesto. Nur auf ihr inständiges Bitten lässt er sich davon abbringen, ihren Knaben zu erstechen. Ernesto wird misstrauisch und knöpft sich die Gestrandeten vor, sieht aber von einer Gefangennahme ab, wenn sie das Land wieder verlassen. Gualtiero besteht auf einem letzten Gespräch mit Imogene, macht ihr Vorwürfe und ignoriert ihr ohnehin schon schweres Schicksal.
Grausame Schicksale
Immer wieder droht der planlose Heißsporn, wechselweise Ernesto, Imogene, beider Sohn oder sich selbst zu töten, falls seine Geliebte nicht einwilligt, mit ihm zu fliehen. Ernesto stellt seine Frau zur Rede und erfährt, dass sie Gualtiero immer noch liebt, aber zu ihren Mutterpflichten stehen will. Als Gualtiero erscheint, kommt es zum Kampf der beiden Männer. Gualtiero siegt und stellt sich seiner Verurteilung. Imogene bleibt mit ihrem Sohn zurück und fällt ob der grässlichen Tragödie in geistige Verwirrung.
Ben Baur (Regie und Bühne) beginnt in St. Gallen mit diesem Ende. Zwischen Blumen und Kerzen ist ein Kindersarg aufgebahrt. Ein Foto und ein Segelschiff-Modell verweisen auf den von seiner Mutter offenbar im Wahn getöteten Jungen. Rundum stehen schwarz gekleidete Trauergäste. Ihre Kleider und Frisuren lassen an die Zeit des Mussolini-Faschismus in Süditalien denken (Kostüme: Uta Meenen). Wie in einem Film wird dann als Rückblende die Vorgeschichte erzählt. An der Rückwand sieht man die Silhouette eines Hafens mit Kränen und Hochseeschiffen.
Geschickt nutzt Baur Vorder- und Hintergrund der Bühne, um die Illusion größerer Entfernungen zu erzeugen, wenn Protagonisten, die im Libretto nichts voneinander hören dürfen, gleichzeitig singen. So werden derlei Konstellationen, die zu Bellinis Zeit niemand gestört haben, realistischer entfaltet. Nicht immer gelingt es, zeitbedingte „Übertriebenheiten“in glaubhafte Szenen zu überführen. Der Titelheld etwa müsste von Anfang an als stalkender Borderliner gezeigt werden, mit dem Imogene wohl nie glücklich geworden wäre.
Arthur Espiritu meistert die strapaziöse Tenorpartie Gualtieros großartig. Joyce E-Khoury begeistert als Imogene mit perfekten Koloraturen, phantastisch zurückgenommenen Pianissimo-Bögen und grandios zelebriertem Wahnsinn. Packend gestaltet sie ihr Duett mit dem fabelhaften Bariton Marco Caria (Ernesto). Feinen Belcanto bieten auch Riccardo Botta (Itulbo), Martin Summer (Goffredo) und Tatjana Schneider (Adele). Pietro Rizzo navigiert den von Michael Vogel einstudierten Chor und das vorbildlich aufspielende, manchmal etwas brav tönende Orchester kompetent durch die Partitur.