„Eine ideale Möglichkeit, Frustrationen herauszuatmen“
Der Psychiater und Psychotherapeut Reinhard Haller über die wundersamen Wirkungen des Wanderns
- Wandern stärkt nicht nur den Körper, sondern auch die Psyche: Davon ist der renommierte Psychiater, Psychotherapeut und Neurologe Reinhard Haller felsenfest überzeugt. Im Gespräch mit Dirk Uhlenbruch erläutert er die Effekte beispielsweise auf Depressionen und Burnout. Gleichzeitig zeigt er aber auch die Grenzen der Wandertherapie auf.
„Wandern ist die beste Medizin“, haben Sie einen Aufsatz im „Vorarlberg Magazin“überschrieben. Können Sie das erklären?
Die körperlichen Effekte des Ausdauersports und damit auch des Wanderns sind bestens erforscht und wissenschaftlich belegt. Man kann diese Ergebnisse auf einen Punkt bringen: Eine Tablette, die alle Vorteile des Wanderns in sich vereinen würde, wäre der Bestseller schlechthin. Es wäre ein Mittel, das gegen Bluthochdruck wirkt, die HerzKreislauffunktion reguliert, den Zuckerstoffwechsel ins Lot bringt, die Blutbildung fördert, die Sauerstoffsättigung optimiert, die Muskelkraft stärkt und weniger infektanfällig macht. Weniger bekannt sind allerdings noch die Auswirkungen auf die Psyche.
Die hirnbiologischen Effekte scheinen aber doch recht gut erforscht zu sein.
Die Hirnbiologie hat gewiss große Fortschritte gemacht, aber die Frage bleibt: Wird das menschliche Gehirn sich überhaupt selbst jemals begreifen können? Da habe ich so meine Zweifel. Unzweifelhaft steht hingegen fest: Wandern verbessert die Durchblutung des Gehirns und sorgt für einen höheren Sättigungsgrad mit Sauerstoff. Ebenso positiv wirkt es sich auf die Botenstoffe im Gehirn aus. Vereinfacht könnte man sagen: Es reguliert jene Neurohormone, die für Angstbekämpfung, Gelassenheit, Entspannung und Stimmungen zuständig sind. Aber die Psyche geht weit über das Organische hinaus.
Und doch setzen Sie in der psychotherapeutischen Praxis auf das Wandern.
Das Gefühl der Gelassenheit – das höchste Ziel der Psychotherapie – entsteht am besten durch einen Perspektivenwechsel. In der Praxis erweist es sich aber als äußerst schwierig, den Patienten wegzubringen von seinem eingeengten, fokussierten, manchmal depressiv gefärbten Denken. Beim Wandern jedoch kann dieser Perspektivenwechsel ganz gut gelingen, gerade wenn man sich in einer Krise befindet. Es ist beispielsweise ein unglaubliches Aha-Erlebnis, auf dem Berg zu stehen und herunterzublicken auf die Menschen in Ameisengröße, die einem das Leben zur Hölle machen, oder auf die winzigen Häuser, in denen sich die großen Dramen abspielen.
Bei welchen Krankheitsbildern erzielen Sie Erfolge?
Nirgendwo sonst ist der Effekt des Wanderns so gut ersichtlich wie beim Kampf gegen Depressionen. Nach Prognosen der Weltgesundheitsorganisation werden Depressionen bis zum Jahr 2050 die häufigste Erkrankung sein. Umso wichtiger ist die Vorbeugung in diesem Bereich. Das Wandern führt zu einem Anstieg der Botenstoffe wie etwa Serotonin, von denen depressive Menschen zu wenig im Blut haben. Empirische Untersuchungen zeigen eindeutig, dass die Suizidraten, die die Spitze eines Eisbergs darstellen bei Depressionen, drastisch sinken bei denjenigen, die zusätzlich mit einer Art Wandertherapie behandelt wurden. Wobei klar festzuhalten ist: In der akut depressiven, extrem antriebslosen Phase ist diese Therapie nicht angezeigt, könnte sogar kontraproduktiv wirken.
Und wie verhält es sich mit Aggressionen und Burnout?
Wandern ist eine ideale Möglichkeit, um Aggressionen tröpfchenweise abzubauen, Frustrationen herauszuatmen, überschüssige Energie zu sublimieren. Burnout hingegen hat sehr viel zu tun mit mangelnder Anerkennung, fehlendem Selbstvertrauen und letztlich mit Überforderung. Zur Vorbeugung des Burnout und zur langfristigen Behandlung – allerdings keinesfalls in der akuten Phase – bietet das Wandern mit seinen zahlreichen Erfolgserlebnissen sehr viel.
Können Wanderer also häufiger auf Psychopharmaka verzichten?
Das kommt darauf an. In akuten Phasen sollte man sie einsetzen. Wandern ist kein Allheilmittel.
Sie haben also keine Angst, als Therapeut überflüssig zu werden?
Nein. Traumatisierungen etwa kann man nicht wegwandern. Da muss ich fokussiert mit Gesprächen oder psychotherapeutischen Techniken vorgehen. Ich propagiere das Wandern ja nicht, weil ich von der Psychotherapie so wenig, sondern vom Wandern so viel halte. Auf Dauer werden wir – auch angesichts knapper Ressourcen im Gesundheitsbereich – um diese Art der Vorbeugung und Selbsthilfe auf bestimmten Feldern nicht herumkommen.
Hört sich ziemlich schweißtreibend an ...
Disziplin gehört dazu. Wenn man nur im Urlaub zwei Wochen zum Wandern geht, ist das zu wenig. Regelmäßigkeit bringt den langanhaltenden psychischen Effekt. Man muss dabei ins Schwitzen und Schnaufen geraten – dreimal pro Woche für 30 bis 40 Minuten.
Eine Wanderung ins Glück sozusagen?
Ich will das Wandern nicht überhöhen. Wir wissen doch gar nicht genau, was Glück ist. Aber dass es einen euphorisierenden, die Stimmung aufhellenden Effekt hat, davon bin ich zutiefst überzeugt. Ob das schon Glück ist, maße ich mir nicht an zu sagen.