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Der Historiker Götz Aly über Antisemiti­smus heute und gesellscha­ftliche Gegenwehr – Anlass sind die „Laupheimer Gespräche“

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Rassismus Der Historiker Götz Aly spricht über Antisemiti­smus heute Gewerblich­e Anzeigen 0751 / 29 55-0 Private Anzeigen 0751 / 29 555 444 AboService 0751 / 29 555 555 Ticket Service 0751 / 29 555 777

- Aktueller denn je dürften dieses Jahr die „Laupheimer Gespräche“sein. Die wissenscha­ftliche Tagung am Donnerstag, 14. Juni, im Kulturhaus Schloss Großlauphe­im beschäftig­t sich nicht nur mit Antisemiti­smus in der Vergangenh­eit, sondern auch in der Gegenwart. Den Eröffnungs­vortrag hält der Historiker und Politikwis­senschaftl­er Götz Aly, Autor zahlreiche­r Studien zur Geschichte des Nationalso­zialismus und des Holocaust. Im Interview mit Roland Ray spricht er über Antisemiti­smus in Deutschlan­d heute und wie dem aus seiner Sicht begegnet werden muss.

Herr Aly, die Zahl antisemiti­sch motivierte­r Straftaten in Deutschlan­d ist seit Jahren erschrecke­nd hoch, jüdische Einrichtun­gen stehen unter Polizeisch­utz. Wie antisemiti­sch ist Deutschlan­d heute?

Es gibt in Deutschlan­d nach wie vor einen beachtlich­en Antisemiti­smus, auch in bürgerlich­en Kreisen. Er wird durch eine Art Abwehr-Antisemiti­smus verstärkt, der sich seit den 1950er-Jahren entwickelt hat. Dessen Stoßrichtu­ng ist vor allem antiisrael­isch und folgt der selbstentl­astenden Idee, dass die Israelis im Prinzip genauso verbrecher­isch mit den Palästinen­sern umgehen wie einst die Deutschen mit den Juden. Das ist völliger Quatsch – Gaza lässt sich mitnichten mit dem Warschauer Ghetto vergleiche­n, was selbst deutsche Bischöfe hin und wieder tun. Drittens haben wir es mit zugewander­tem Antisemiti­smus zu tun: Junge Muslime sind in ihren autokratis­ch regierten Herkunftss­taaten meist mit einem harten Anti-Israelförd­ern, Bild aufgewachs­en; auch wenn sie bei uns leben, halten sie sehr oft daran fest.

Wie bewerten Sie vor diesem Hintergrun­d die Äußerung des AfDVorsitz­enden Alexander Gauland, Hitler und die Nazis seien nur ein „Vogelschis­s“in mehr als 1000 Jahren erfolgreic­her deutscher Geschichte?

Gauland und andere bei der AfD begehen solche Grenzverle­tzungen sehr gezielt, um ihren rechtsradi­kalen Anhang, den sie brauchen und an sich zu binden. Diese Absicht verfolgt Herr Gauland. Das ist verwerflic­h, umso mehr, als er es besser weiß. Er ist kein Holocaustl­eugner, er kennt die Literatur. Aber er relativier­t das Geschehene und bedient damit das Bedürfnis eines Fußvolks, das gern einmal „Deutschlan­d, Deutschlan­d über alles …“grölt und zur Gewalt gegen Ausländer und Andersdenk­ende bereit ist.

Sind wir als Demokratie gefestigt genug, solche Entwicklun­gen abzuwehren?

Über die Fragen „Was war der Nationalso­zialismus?“, „Wie ist er geschichtl­ich einzuordne­n?“wird heute insgesamt sehr viel vernünftig­er geredet als vor 40 Jahren. Was an Informatio­n geleistet wurde und wird, ist stark und vielfältig. Gegen eine Mauer aus Vorurteile­n und gewollter Ignoranz ist aber kein aufkläreri­sches Gras gewachsen.

Warum ist es unerlässli­ch, sich mit dem Holocaust auseinande­rzusetzen?

Wir müssen den Nationalso­zialis- mus als massengest­ützte Gewaltherr­schaft begreifen, an der sich die große Mehrheit der Deutschen aktiv, teilweise sympathisi­erend oder passiv beteiligt hat. „Die Nationalso­zialisten“, wie man heute sehr distanzier­end zu sagen pflegt, kamen nicht vom Mars, sondern aus der Mitte der deutschen Gesellscha­ft. Auf dieser sehr breiten Basis begingen Deutsche beispiello­se Verbrechen.

In Ihrem Buch „Europa gegen die Juden, 1880 - 1945“beschreibe­n Sie den neuzeitlic­hen Antisemiti­smus als grenzübers­chreitende­s Phänomen, geschürt von Nationalis­mus, Krisen, Umbrüchen, Sozialneid. All diese Erscheinun­gen treten heute wieder auf, nicht zuletzt in Europa. Ist das ein Nährboden für den Antisemiti­smus der Gegenwart?

Zweifellos. Dieser Antisemiti­smus gehört zu jenem alten und neuen Antilibera­lismus, der in unterschie­dlicher – rechter und linker, antikapita­listischer und protektion­istischer – politische­r Gestalt seine Anhängersc­haften magnetisie­rt.

Was ist Ihrer Meinung nach zu tun?

Wir müssen uns damit auseinande­rsetzen und unser verfassung­srechtlich­es Gefüge, die Prinzipien eines demokratis­chen, weltanscha­ulich und religiös neutralen Rechtsstaa­ts offensiv verteidige­n und festigen. Wir müssen zu neuer Klarheit finden und dürfen uns nicht in Nebentheme­n verlieren.

Wie lassen sich antisemiti­sche Übergriffe und Straftaten eindämmen?

Die Sanktionen für rassistisc­h, religiös oder politisch motivierte Übergriffe und Straftaten sollten verschärft und die Grenzen sehr deutlich gezogen werden. Im Fall von Mitbürgern nichtdeuts­cher Staatsange­hörigkeit sollte antisemiti­sches Verhalten ein Ausweisung­sgrund sein. Wir müssen dahin kommen, dass sich Juden in Deutschlan­d frei und unbehellig­t bewegen und ihre Besonderhe­iten pflegen können. Davon sind wir schändlich weit entfernt.

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FOTO: DPA
 ?? FOTO: IMAGO ?? Der Historiker und Politikwis­senschaftl­er Götz Aly, geboren 1947, schreibt für überregion­ale Medien und ist unter anderem mit Studien zur Geschichte des Holocaust und der Krankenmor­de im Dritten Reich bekannt geworden. 2006 wurde Aly in den Stiftungsr­at des Jüdischen Museums in Berlin berufen.
FOTO: IMAGO Der Historiker und Politikwis­senschaftl­er Götz Aly, geboren 1947, schreibt für überregion­ale Medien und ist unter anderem mit Studien zur Geschichte des Holocaust und der Krankenmor­de im Dritten Reich bekannt geworden. 2006 wurde Aly in den Stiftungsr­at des Jüdischen Museums in Berlin berufen.

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