Mit Erdogan im Rucksack nach Russland
Die Debatten um Özil und Gündogan machen die Nationalmannschaft zunehmend nervös
- Am Dienstag fliegt der Tross des Weltmeisters nach Russland. Vor ihm liegt eine Reise, die im besten Fall mit einer durchgefeierten Nacht vom 15. auf den 16. Juli in Moskau enden soll. Doch vor dem Abflug müssen sich die Verantwortlichen der Nationalmannschaft und die Spieler noch darum sorgen, wie lange sie die Affäre Erdogan noch begleiten wird.
Nach den Vorkommnissen beim viel zu mühsamen 2:1 (2:0) gegen Saudi-Arabien im letzten WM-Test, als Ilkay Gündogan von Abertausenden Fans in Leverkusen bei jedem Ballkontakt ausgepfiffen wurde, fragt man sich rund um den DFB auch, wie sehr Fans und Mannschaft sich entfremdet haben – und ob die Debatten um den Propagandadienst Ilkay Gündogans und Mesut Özils für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan womöglich auch den Zusammenhalt innerhalb der gesamten Nationalmannschaft stören könnten.
Vor rund drei Wochen hatten die beiden in Gelsenkirchen geborenen, türkischstämmigen Nationalspieler Gündogan und Özil, in Leverkusen wegen Rücken- und Knieproblemen auf der Bank, in London Erdogan getroffen – und samt signierten Trikots ihrer Vereine Manchester City respektive FC Arsenal Erinnerungsfotos geschossen.
Auch Merkel schaltet sich ein
Seither spaltet das Thema die Fans der deutschen Nationalelf. Gündogan wurde am Freitag selbst bei einer Torchance ausgepfiffen. Eine Ablehnung, die Joachim Löw entsetzte. Seine Geste, die Zuschauer zum Applaudieren zu animieren, verpuffte. Es habe ihn „geschmerzt“, sagte der Bundestrainer, er könne es „schwer nachvollziehen“Löw erbost: „Was soll Ilkay noch tun? Er hat gesagt: Ich lebe die deutschen Werte, ich identifiziere mich mit Deutschland. Er hat sich der Presse gestellt. Irgendwann ist das Thema auch mal vorbei.“
Auch Nationalmannschaftsmanager Oliver Bierhoff hatte darum gebeten, „die Spieler nicht auf ewig zu verdammen“.
Am Sonntagabend schaltete sich sogar die Kanzlerin ein. „Ich glaube, die beiden Spieler haben nicht bedacht, was das Foto auslöst mit dem Präsidenten Erdogan“, sagte Angela Merkel (CDU) bei Anne Will in der ARD. Sie sei überzeugt, dass beide die deutschen Fans in keiner Weise enttäuschen wollten. Sie habe es sehr berührend empfunden, das Gündogan trotzdem gesagt habe, er spiele gerne für Deutschland und sei gerne Mitglied der Nationalmannschaft.
Die Kanzlerin ergänzte: „Ich finde, wir brauchen die jetzt alle, damit wir gut abschneiden.“Gündogan und Özil gehörten zur Nationalmannschaft, „und deshalb würde ich mich freuen, wenn mancher Fan auch klatschen könnte“.
Doch die Debatten scheinen mit einem „Basta“nicht so einfach beendet werden zu können. Die Nationalelf und der DFB nehmen einen dicken Rucksack mit zur WM. „Ich weiß nicht, welche Reaktionen es in
„Das Thema ist in der Tat unterschätzt worden.“ DFL-Präsident Reinhard Rauball kritisiert das DFB-Krisenmanagement
Russland noch geben wird“, sagte Löw ratlos. Bis zu 10 000 deutsche Fans werden zu den Vorrundenspielen erwartet. Der Verband habe das „Thema unterschätzt“, sagte DFLPräsident Reinhard Rauball der „BamS“. Aus seiner Sicht habe der „erhebliche Unmut“der Anhänger angesichts der unzureichenden Reaktion der Beteiligten „eher noch zugenommen“. Rauball weiter: „Meine Sorge ist es, dass es ansonsten dauerhaften Schaden bei beiden Sportlern hervorruft.“Nächsten Sonntag (17 Uhr/ZDF) startet die DFB-Elf in Moskau gegen Mexiko ins Turnier. Begleitet von Pfiffen?
Die ersten Experten fordern sogar schon, Gündogan und Özil nicht mehr aufzustellen. „Wenn die Mannschaft im ersten Spiel in Russland ausgepfiffen wird, dann muss Jogi reagieren und Özil rausnehmen. Denn er gefährdet sonst einen großen Titel“, sagte Ex-Nationalspieler Mario Basler am Sonntag im „Doppelpass“bei Sport1.
Ilkay Gündogan selbst reichte den Fans der Nationalmannschaft die Hand. Während er am Freitag nach dem wohl schlimmsten Spiel seiner Karriere noch geschwiegen hatte, völlig in sich gekehrt wirkte und laut Mitspielern und Trainerstab „sehr geknickt“war, twitterte er am Samstag: „Letztes Spiel vor der Weltmeisterschaft – und immer noch dankbar, für dieses Land zu spielen.“Ein demütiges Statement, deeskalierend. Kein Öl mehr ins Feuer. Ob’s hilft?
In der Mannschaft bleibt es Thema und daher eine Belastung. Kapitän Manuel Neuer beklagte sich: „Diese Pfiffe schaden uns als Mannschaft.“d Stürmer Mario Gomez meinte: „Ich bitte die Leute, daran zu denken, dass wir Weltmeister werden wollen. Dafür brauchen wir den Illy, dafür brauchen wir den Mesut. Es sollte nicht versucht werden, das Ding weiter zu spalten, sondern versucht werden, da wieder eine Brücke zu bauen.“Mats Hummels fordert: „Man muss jetzt in den Dialog treten, auch so, dass wir Spieler für unsere Mannschaftskollegen einstehen, weil sie alles für uns geben.“
Am Ende könnte vielleicht sogar ein Ruck durch die Mannschaft gehen. Aber nur, wenn man sich zunächst des schweren Rucksacks entledigt.