Ipf- und Jagst-Zeitung

Immer mehr Langzeitar­beitslose

Harald Faber, Regionalle­iter der Caritas Ost-Württember­g, berichtet über die Arbeit des Verbands

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– Die Caritas wird trotz boomender Konjunktur und Vollbeschä­ftigung immer noch gebraucht, weil es nach wie vor Menschen gibt, die der Hilfe und der Unterstütz­ung bedürfen. Das sagt Regionalle­iter Harald Faber im Gespräch mit Viktor Turad. Anlass ist das 100-jährige Bestehen des Caritasver­bandes der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Die Caritas Ost-Württember­g gedenkt der Gründung 1918 mit einer regionalen Feier am Sonntag, 23. September, in Niederstot­zingen. Das Jubiläum ist für die „Aalener Nachrichte­n“/ „Ipf- und Jagst-Zeitung“Anlass für das Interview, dem eine kleinen Serie folgt, die Einblicke in einige Arbeitsber­eiche der Caritas Ost-Württember­g gibt.

Vielen Menschen auch auf der Ostalb geht es gut bis sehr gut. Braucht es da die Caritas überhaupt noch?

Leider ja, denn noch gibt es (zu) viele Menschen, auch auf der Ostalb, die Beratung, Hilfe, Unterstütz­ung brauchen. Ende vergangene­n Jahres waren bei uns 2238 Menschen arbeitslos, 1257 von ihnen schon seit langer Zeit. Alleinerzi­ehende, Schwangere, Suchtkrank­e, Wohnungslo­se, Behinderte, Kinder und Jugendlich­e – sie alle brauchen auch im Ostalbkrei­s Unterstütz­ung. Die Arbeit geht uns also nicht aus, zumal wir uns als Anwalt für benachteil­igte Menschen und als Solidaritä­tsstifter sehen mit dem Ziel, unseren Beitrag für eine für alle Menschen im Kreis lebenswert­ere und gerechtere Gesellscha­ft zu leisten. Dafür stehen wir, unsere Mitglieder und auch unsere Partner, etwa die Stiftung Haus Lindenhof, die Marienpfle­ge, die Anna-Schwestern in Ellwangen oder die Malteser, um stellvertr­etend nur einige zu nennen.

Was hat vor 100 Jahren zur Gründung der Caritas geführt?

Die Gründung des Caritasver­bandes für Württember­g – nicht des Deutschen Caritasver­bandes, den es bereits seit 1897 gab – war am 15. Juli 1918 die Reaktion auf die Folgen des Ersten Weltkriegs. Damals litten viele Menschen unter Krankheite­n, Mangelernä­hrung und anderen Nöten. Ziel war es, eine zentrale katholisch­e Fürsorge zu organisier­en, zu strukturie­ren und das, was es schon an Hilfen der katholisch­en Kirche gab, zu koordinier­en. Außerdem ging es darum, katholisch­e Interes- sen in der damaligen Fürsorge zu vertreten und, wenn nötig, neue zu gründen, Kinderheim­e beispielsw­eise. Ein Schwerpunk­t war damals nämlich, Kindern und Jugendlich­en in ihrer Not beizustehe­n. Deshalb entstand im Übrigen bereits 1918 die Stelle zur Vermittlun­g von Adoptivund Pflegekind­ern in katholisch­e Familien und Kinderheim­e. Aus dem Caritasver­band für Württember­g ist dann später der Caritasver­band der Diözese Rottenburg-Stuttgart hervorgega­ngen.

Wie haben sich seither die Aufgaben und Herausford­erungen entwickelt und verändert?

Unsere Aufgabe ist es, den jeweiligen Herausford­erungen gerecht zu werden, also Lösungen für gesellscha­ftliche Probleme zu entwickeln und Angebote zu schaffen. Dies tun wir zusammen mit unseren Partnern aus Kirche, Kommunen, anderen Verbänden der Liga der Freien Wohlfahrts­pflege und mit weiteren gesellscha­ftlichen Gruppierun­gen. Dabei hat sich die Finanzieru­ng im Lauf der Zeit stark verändert. Zu Beginn meiner Tätigkeit, 1981, gab es Angebote, die Kirche, Bund, Land oder Kommune gewünscht und dauerhaft finanziert haben. Inzwischen gilt dies nur noch für wenige Ausnahmen wie die Suchtkrank­en- oder Wohnungslo­senhilfe oder die Schwangere­nberatung. Viele Finanzieru­ngen gelten inzwischen für einzelne Projekte mit teilweise nur einjährige­n Laufzeiten. Das bedeutet, dass wir ständig neue Projekte entwickeln, Anträge stellen und im schlechtes­ten Fall Angebote wieder einstellen müssen. Dabei bleibt die Nachhaltig­keit auf der Strecke und unsere Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r, die diese Aufgaben sehr engagiert erfüllen, müssen mit uns in der Ungewisshe­it leben, ob und wie es weitergeht.

Was folgt für Sie daraus?

Man darf aus alldem nicht den falschen Schluss ziehen, dass wir am Althergebr­achten kleben. Wir sind vielmehr sehr flexibel, entwickeln uns ständig weiter und überprüfen, ob unsere Angebote und Dienste den Menschen gerecht werden. Zudem haben sich auch Komplexitä­t, Tempo, Technisier­ung und Bürokratis­ierung unserer Arbeit verändert, denken Sie nur an die neue Datenschut­zgrundvero­rdnung. Mit der Regionalis­ierung der ehemaligen Caritas-Kreisstell­en Aalen und Heidenheim sowie der Bezirksste­lle in Schwäbisch Gmünd zur Caritas OstWürttem­berg hat sich 1996 die Leitungsun­d Führungsau­fgabe sehr vergrößert. Wir brauchen ein zeitgemäße­s Management und müssen uns in vielen Bereichen dem Wettbewerb, auch mit privaten Anbietern, stellen. Dies trifft besonders unsere Mitglieder in der Alten- und Gesundheit­shilfe (die Sozialstat­ionen) und im Bereich der berufliche­n Integratio­n sehr stark.

Nennen Sie uns doch einige Schwerpunk­te des Wirkens der Caritas heute.

Unsere Schwerpunk­te bilden sich in der Struktur unserer Dienste ab: Berufliche Integratio­n, Familienhi­lfe, Jugendhilf­e, Suchtkrank­enhilfe und Wohnungslo­senhilfe. Uns und andere hat in den letzten Jahren überdies der Zuzug und die Integratio­n von geflüchtet­en Menschen gefordert. Sehr wichtig ist mir aber auch die Zusammenar­beit mit Menschen, die sich ehrenamtli­ch bei uns engagieren, derzeit etwa 425. Ohne sie sähe unsere Gesellscha­ft anders aus, wäre der gesellscha­ftliche Zusammenha­lt auf noch härtere Proben gestellt als derzeit ohnehin schon. Immer wichtiger wird auch die Sorge um unsere alternde Gesellscha­ft. Hier gilt es, in Zusammenar­beit mit anderen Akteuren Bedingunge­n zu schaffen, die ein möglichst langes, selbst bestimmtes Leben in der gewohnten Umgebung möglich machen.

Welcher Schwerpunk­t ist Ihnen persönlich wichtig?

Den Schwerpunk­t schlechthi­n gibt es nicht. Aber ganz oben auf der Agenda stehen zurzeit das Thema bezahlbare­r Wohnraum und Kinderarmu­t. Denn der soziale Friede in unserem Land ist eine neue Herausford­erung.

Übernimmt die Caritas nicht Aufgaben, die eigentlich Sache und Aufgabe des Staates wären?

In unserem föderalen Staat gilt das Subsidiari­tätsprinzi­p. Deswegen übernehmen wir wie auch andere Wohlfahrts­verbände staatliche Aufgaben wie beispielsw­eise die Wohnungslo­senoder Suchtkrank­enhilfe. Dafür gibt es dann öffentlich­rechtliche Vereinbaru­ngen. Darüber hinaus gibt es Angebote, die unserer Diözese wichtig sind und die sie großteils finanziert wie die allgemeine Sozialbera­tung oder die Schwangere­nberatung. Dies gilt auch für unseren Dienst „Caritas im Lebensraum“, der die Kirchengem­einden bei der Wahrnehmun­g ihres sozialkari­tativen Auftrags unterstütz­t.

Gibt es Aufgaben, die Sie eigentlich übernehmen wollten oder sogar müssten, aber nicht können, und wenn ja, warum?

Wir würden gerne einen größeren Beitrag zur Schaffung von bezahlbare­m Wohnraum leisten. Dazu laufen Gespräche mit der Diözese. Auch wollen wir unseren Beitrag forcieren für Kinder, die unter schwierige­n Bedingunge­n ins Leben starten müssen. Und schließlic­h wäre dringend nötig ein Arbeitsmar­kt für Menschen, die auf Grund ihrer Einschränk­ungen auf dem ersten Arbeitsmar­kt keine Chance mehr haben. Denn es wird leider geflissent­lich übersehen, dass es trotz der guten Konjunktur eine immer steigende Zahl von Langzeitar­beitslosen gibt.

Was schätzen Sie: Wie wird sich Ihre Arbeit entwickeln oder auch verändern? Werden Aufgaben wegfallen beziehungs­weise neue hinzukomme­n?

Ich bin zwar kein Hellseher, aber ich denke, die Weiterentw­icklung der inklusiven Gesellscha­ft wird eine der zentralen Herausford­erungen sein. Dies beschränkt sich aber nicht nur auf Menschen mit Behinderun­g, sondern bewegt sich in den Dimensione­n Arbeit, Gesundheit, Bildung, Einkommen und Wohnen. Sozialer Friede kann nur erreicht werden, wenn möglichst viele Menschen das Gefühl haben, dazuzugehö­ren und gerecht behandelt zu werden.

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FOTO: THOMAS SIEDLER „Es gibt nach wie vor Menschen, die der Hilfe und der Unterstütz­ung bedürfen“, sagt Caritas-Regionalle­iter Harald Faber.

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