Ein Land, das heraussticht
Nirgends in der EU gibt es so viele Nichtreligiöse wie in Tschechien – und fast nirgends so viel Europaskepsis
- Das ist ein Buchstabe, den es auf dieser Welt nur im Tschechischen gibt. Und es ist auch logisch, dass sich gerade Tschechien mit seinen gerade einmal zehn Millionen Einwohnern diese Eigenart leistet. Dieses Land sticht heraus, aus vielen Gründen. In keiner Nation der Welt ist der Bierkonsum pro Kopf höher als in Tschechien. In keinem anderen europäischen Land leben mehr Menschen, die sich keiner Religion zugehörig fühlen – es ist mehr als die Hälfte der Bevölkerung. Und das, obwohl die zwei Nachbarstaaten Polen und Slowakei bis heute erzkatholisch sind.
Für beide Spitzenwerte liegt der Grund in der Geschichte. Die Bierbrauerei ist ein Erbe der Millionen Einwohner deutscher Sprache, die bis zu ihrer Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg über Jahrhunderte im heutigen Tschechien gelebt haben. Und die Abwendung von der Religion liegt daran, dass die österreichischen Habsburger – die jahrhundertelang über die Landesteile Böhmen und Mähren herrschten – den Katholizismus den tschechischsprachigen Bewohnern aufgezwängt hatten. 1918, als dann das Habsburgerreich zusammenbrach und die Tschechoslowakei entstand, wendeten sich die Tschechen in Scharen ab von der Religion.
Auf Tschechisch, der Sprache mit dem wurde Weltliteratur geschrieben: Die satirischen Theaterstücke von Václav Havel etwa, der wegen seines Widerstands gegen die kommunistische Diktatur ins Gefängnis ging – und später, nach der Wende zur Freiheit, Staatspräsident wurde. Die ersten Romane von Milan Kundera, der erst nach Frankreich auswanderte und in den 1990er-Jahren ins Französische wechselte. Tschechien ist eine Kulturnation: Hier wurden die auf Deutsch schreibenden Franz Kafka und Adalbert Stifter geboren und die auf Tschechisch schreibenden Jaroslav Hašek, Vater des Soldaten Schwejk, und Karel Capek, Science-Fiction-Pionier, der in seinem Theaterstück „R.U.R.“das Wort „Roboter“in die Welt setzte.
Früher multikulturell
Das haben Jahrhunderte lang Menschen mit deutscher wie tschechischer Muttersprache, Christen und Juden benutzt. Das Gebiet des heutigen Tschechien war einmal multikulturell, Kulturen und Sprachen beeinflussten und vermischten sich hier. Das merkt man bis heute an der Küche – in tschechischen Wirtshäusern isst man ganz ähnlich wie in bayerischen und österreichischen – und an der tschechischen Sprache: In ihr gibt es den „gaunr“, das „ksicht“und wer „das passt schon“sagen will, sagt „fajn“.
Das bedeutet Zungenakrobatik. Vereinfacht gesagt, muss man dazu ein gerolltes R bilden – und sofort danach ein stimmloses „sch“. Das bekommt kaum jemand hin, der nicht in Tschechien geboren ist, selbst Polen und Slowaken scheitern mehrheitlich daran. Heute ist Tschechien ein ziemlich homogenes Land. Das symbolisiert heute auch, dass ein großer Teil der Tschechen im eigenen Land unter sich bleiben will. Ab dem 19. Jahrhundert haben aggressiver Nationalismus und Antisemitismus das Land radikal verändert. Ein Universitätsdozent aus Olmütz im Osten Tschechiens hat es vor ein paar Jahren so gesagt: „Wir waren einmal das spannendste Land Europas. Dann haben die Deutschen die Juden eliminiert – und dann haben die Tschechen die Deutschen verjagt. Und jetzt sind wir ein langweiliges Land.“Im 21. Jahrhundert prägt ein nach innen gerichteter Nationalismus die Tschechische Republik: Eine Mehrheit der Tschechen will eher unter sich bleiben.
Das wirkt sich aus auf die Haltung zu Europa: Etwa drei Viertel der Tschechen sehen laut Umfragen der vergangenen Jahre in der EU-Mitgliedschaft ihres Landes eher Nachals Vorteile. Dabei hat sich Tschechien seit dem EU-Beitritt 2004 wirtschaftlich bestens entwickelt: Das Lohnniveau ist deutlich gestiegen, es herrscht fast Vollbeschäftigung, ein Billigland wie in den 1990ern ist Tschechien längst nicht mehr. Trotzdem: Tschechien ist heute Teil der Visegrad-Staaten, die Flüchtlingsquoten für ihre Länder strikt ablehnen. Selbst linke Parteien wie die Sozialdemokraten sind fast ausschließlich gegen Immigration. Die Regierungsbildung Ende Juni wäre fast gescheitert, weil der populistische Staatspräsident Milos Zeman den Außenminister-Kandidaten Miroslav Poche für zu „migrationsfreundlich“hielt. Poches Schuld, in Zemans Augen: Er hatte gesagt, Migration sei ein „komplexes, gesamteuropäisches Problem.“
Der tschechische Spitzenpolitiker, der heute den aggressivsten – und oft offen rassistischen – Ton gegenüber Migranten vertritt, heißt übrigens Tomio Okamura. Er ist Chef der rechtsextremen Partei SPD. Und er ist Sohn einer Tschechin und eines Japaners. „Neuveřitelné“, um es mit dem tschechischen zu sagen. Unglaublich.