Ipf- und Jagst-Zeitung

32 000 Patienten – und eine Million Euro Minus

Chefarzt Stefan Kühner über die Wartezeit in der Notaufnahm­e und die Probleme in der Notfallver­sorgung

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- Rund 32 000 Patienten werden jährlich in der Zentralen Notaufnahm­e am Aalener Ostalb-Klinikum behandelt, viele davon ambulant. Die Folge: eine Million Euro Minus. Stefan Kühner, Chefarzt der Abteilung, sieht den Fehler im System und fordert ein Umdenken. Über die Probleme in der Notfallver­sorgung und die oft kritisiert­e Wartezeit auf die Behandlung hat unser Redakteur Thorsten Vaas mit ihm gesprochen.

Immer wieder gibt es Kritik an der Notaufnahm­e. Patienten beschweren sich über lange Wartezeite­n. Wie reagieren Sie auf diese Kritik?

Keiner von uns plant das Notfallges­chäft. Wir wissen nicht, wann wie viele Patienten kommen und wie viel Zeit sie in Anspruch nehmen. In der Summe muss man sagen, dass wir eine durchschni­ttliche Wartezeit von 28 Minuten haben. Das ist extrem kurz für eine Notaufnahm­e. Klar ist, dass die Wartezeit in den unterschie­dlichen Dringlichk­eitsstufen unterschie­dlich lange ist. In der höchsten Stufe, bei der man sofort handeln muss, ist die Wartezeit extrem gering, während sie bei einer niedrigen Stufe höher ist. Die Kritik an der Wartezeit zeigt, dass es oft eine Anspruchsh­altung und/oder eine stressbedi­ngte, verfälscht­e WahrDas nehmung gibt. Bis beispielsw­eise Laborwerte fertig sind, dauert es eine gewisse Zeit – das geht nicht mit Hokuspokus-Medizin.

Wie werden die Patienten eingeteilt?

Wir behandeln nicht nach Reihenfolg­e, sondern haben ein fünfgliedr­iges System, das sich nach der Dringlichk­eit richtet. Es geht von akuter Lebensgefa­hr – Herzinfark­t oder Kreislaufs­tillstand etwa – bis zu ganz geringer Dringlichk­eit, bei der ein Arztgesprä­ch genügt, beispielsw­eise, wenn es um eine Krankmeldu­ng geht.

Sie und Ihr Team behandeln mehr als 32 000 Patienten pro Jahr. Ist die Notaufnahm­e damit überlastet?

Sie ist auf diese Patientenz­ahl ausgericht­et. Wir sind gut aufgestell­t. Das Problem ist, dass wir es nicht steuern können. Zwar kennen wir Trends, wissen, wann viel los sein könnte. Aber das sind Durchschni­ttswerte, die sich sich von Tag zu Tag, von Zeit zu Zeit ändern können.

Ihr Kollege, Oberarzt Matthias Müller, bezeichnet die Notaufnahm­e als „Müllhalde des Gesundheit­ssystems“. Wo liegen die Probleme?

Problem ist, dass das Gesundheit­ssystem reformbedü­rftig ist. Das Thema Vergütung trifft uns in der Notaufnahm­e hart. In Deutschlan­d gibt es in der notfallmed­izinischen Versorgung Zuständigk­eiten, die absurd sind. Wir machen Arbeiten, für die wir gar nicht zuständig sind, für die wir nicht bezahlt werden, für die es aber gar keine anderen Versorgung­sstrukture­n gibt. Derzeit machen wir mit jedem ambulant behandelte­n Patienten 60 Euro Minus. Bei 32 000 Patienten, etwa 70 Prozent ambulanter Tätigkeit, sind wir bei rund einer Million Euro Minus. Das ist der Grund, warum mein Kollege die Notaufnahm­e als Müllhalde bezeichnet.

Können Sie das konkretisi­eren?

Wir haben per Gesetz keinen ambulanten Behandlung­sauftrag. Wir sind für die stationäre Notfallbeh­andlung zuständig. Doch wenn der Hausarzt Feierabend und die Notfallpra­xis geschlosse­n hat, braucht es jemanden, der Patienten ambulant versorgt – für sie haben wir aber keinen Behandlung­sauftrag. Das ist der Fehler im System.

Wäre eine durchgehen­d geöffnete Notfallpra­xis eine Lösung?

Das wäre gut, wir brauchen eine vorgeschal­tete Notfallpra­xis. Wenn sie geöffnet hat, ist es immer eine spürbare Entlastung für uns. Dafür sind wir dankbar. Aber sie wird uns dennoch den Großteil der Patienten nicht abnehmen. Sie entlastet uns wunderbar an den Tagen, an denen sie offen hat. Da die Leute mit Erkältung, Zecken und Durchfall dort abgearbeit­et werden können. Dennoch fehlt ihr die technische, fachliche und personelle Ausstattun­g. Man kann ja nicht den ganzen Blumenstra­uß an fachärztli­cher Kompetenz und Geräten dort vorhalten. Was passiert? Die Patienten werden in die Notaufnahm­e geschickt, obwohl wir keinen Versorgung­sauftrag haben. Eine Einweisung erfolgt auch nicht, da es keine stationäre Behandlung ist, und somit machen wir eine Arbeit ohne Versorgung­sauftrag und ohne geeignete Abrechnung­smodalität.

Wie lässt sich das Problem dann lösen?

Es wird immer gesagt, die Notaufnahm­e werde überrannt und missbrauch­t, was auch passiert. Ich halte das aber nicht für das große Problem. Man muss es gesamtpoli­tisch ehrlich betrachten. Dann stellt man fest: Wir brauchen einen Versorgung­sauftrag für die ambulante Behandlung und ein Abrechnung­ssystem, das diese Kosten deckt. Momentan können wir nach dem System der niedergela­ssenen Ärzte abrechnen, haben aber ganz andere Vorhaltung­skosten. Würden wir für unsere Tätigkeit nach den Unkosten bezahlt werden, könnten wir mit einer besseren Personalde­cke agieren. Momentan ist es aber ein Minusgesch­äft.

Das Patienten verursache­n, die nichts in der Notaufnahm­e verloren haben.

Politisch gedacht. Wohin sollen sie gehen? Hätten wir einen offizielle­n Behandlung­sauftrag für diese Patienten, müsste sich die Vergütung nach den tatsächlic­hen Kosten richten. Das wäre ehrlich.

Wie viele Patienten sind tatsächlic­h keine Fälle für die Notaufnahm­e oder die Notfallpra­xis?

Vielleicht fünf Prozent. Mehr nicht.

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FOTO: VAAS Stefan Kühner (links), Chefarzt der Zentralen Notaufnahm­e am Aalener Ostalb-Klinikum, und Oberarzt Matthias Müller.

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