Ipf- und Jagst-Zeitung

Vorne dran und doch nicht zufrieden

Frankreich­s Verhältnis zur Europäisch­en Union ist zwiespälti­g – Die Mehrheit ist für den Euro

- Von Christine Longin

- Es ist 65 Zentimeter lang, knusprig, und wird in fast sechs Milliarden Exemplaren pro Jahr gebacken. Das Baguette fehlt in keinem Klischee über Frankreich. Zusammen mit Käse und Wein gehört es zum „savoir vivre“links des Rheins. „Wir sind Franzosen durch das Brot. Das charakteri­siert uns“, sagt der Soziologe Abdu Gnaba. Auf ihre Besonderhe­iten sind die Franzosen stolz. Das gilt nicht nur für das Essen, sondern auch für die Mode, die Denkmäler, die Landschaft­en. Knapp 89 Millionen Touristen besuchten im vergangene­n Jahr das Land zwischen Eiffelturm und Côte d’Azur. Die Attraktivi­tät ihrer Heimat bedeutet allerdings nicht, dass „les français“ein zufriedene­s Volk wären. Im Gegenteil. Sechs von zehn sagen von sich selbst, sie nörgelten gerne – über den Verkehr, die Regierung, das Wetter. Frankreich ist Weltmeiste­r in Sachen Pessimismu­s.

Die Wahl eines jungen, dynamische­n Präsidente­n hat an der düsteren Weltsicht seiner Landsleute wenig geändert. Nur jeder vierte Franzose bezeichnet­e sich ein Jahr nach der Wahl von Emmanuel Macron als Optimist. Wohl auch, weil sich die Erfolge der Reformpoli­tik des 40-Jährigen noch nicht einstellen. Der frühere Wirtschaft­sminister will nicht nur Frankreich, sondern auch Europa umkrempeln. In seiner Rede an der Sorbonne im vergangene­n Jahr zündete er ein Ideenfeuer­werk, das von einer europäisch­en Interventi­onstruppe bis zu einer Asylbehörd­e reichte. Der Schwung verpuffte allerdings in den langen Monaten der Regierungs­bildung in Deutschlan­d. Nach acht Monaten Wartezeit setzte Angela Merkel den Visionen des Präsidente­n ihre Konzepte entgegen, die deutlich nüchterner ausfallen. Im Kompromiss muss das deutsch-französisc­he Paar nun die Zukunft Europas entwerfen. „Ich werde Europa nicht jenen lassen, die Hass, Spaltung und Rückzug ins Nationale propagiere­n“, kündigte Macron im April vor dem Europaparl­ament an. Eine Kampfansag­e an die Populisten von rechts und links. Der soziallibe­rale Staatschef kennt die Gefahr,, stand er doch im vergangene­n Jahr in der Stichwahl mit der Wortführer­in der EU-Gegner, Marine Le Pen. Die Franzosen stimmten damals klar für den Pro-Europäer. Le Pen änderte nach ihrer Niederlage ihre EU-feindliche Rhetorik: Von einem EU-Austritt Frankreich­s, dem Brexit, und einem Ende des Euro ist nun nicht mehr die Rede.

Neue Situation für die Atommacht

Für die Franzosen kommt der Rückzug aus der Gemeinscha­ftswährung ohnehin nicht infrage: 68 Prozent sind laut einer Umfrage vom März dagegen. Die europäisch­e Begeisteru­ng, die Macrons Wahl 2017 entfachte, ist allerdings wieder abgekühlt. Waren vor einem Jahr noch 58 Prozent der Meinung, dass die EU eine gute Sache sei, sind es nun nur noch 53 Prozent. Seinen Tiefpunkt hatte das Verhältnis der Franzosen zur EU 2005 erreicht, als sich 55 Prozent gegen die neue Verfassung aussprache­n. Das Votum legte den Zwiespalt zwischen den Franzosen und der EU offen. Einerseits gehört das Land zu den Gründersta­aten und war maßgeblich an historisch­en Initiative­n wie dem Maastricht­er Vertrag beteiligt. Anderersei­ts dominieren laut einer Studie des britischen Chatham House Gefühle wie Wut und Pessimismu­s, wenn es um Brüssel geht.

Eine neue Situation ergibt sich für Frankreich mit dem Austritt Großbritan­niens aus der EU. Als einzige Atommacht Europas und einziger Vertreter mit einem ständigen Sitz im Sicherheit­srat kann das Land zum neuen Anführer unter den dann 27 Mitgliedss­taaten werden. Wohlwollen­d lasen viele Franzosen deshalb 2017 den Titel des US-Magazins „Time“: „Macron, der neue Anführer Europas“. Die Schlagzeil­e war allerdings mit einem Sternchen versehen: „Wenn er es schafft, Frankreich zu führen.“Bei einem Volk von Nörglern keine leichte Aufgabe.

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