Idylle in Gefahr
Beim Gotthardpass wird am größten Tourismusprojekt der Alpen gebaut – Mancher Einheimische fürchtet um seine Heimat
Verschneite Gipfel, Alpwiesen, Kühe, das romantische Alpendorf Andermatt (Foto: imago) – eine Landschaft, wie sie sich Heidi-Erfinderin Johanna Spyri nicht besser hätte ausdenken können. Doch die Schweizer Idylle ist in Gefahr, denn der ägyptische Unternehmer Samih Sawiris hat sich in sie verliebt – und will sie nach seinen Wünschen umgestalten: Am Gotthard plant der 61-Jährige das größte Tourismusprojekt der Alpen.
- Ringsherum stehen kolossale Feriengebäude: hochragende, moderne Bauten, die den Blick auf die Berge rund um Andermatt verstellen. Zwischendrin, in einem engen Durchlass, spaziert kopfschüttelnd ein alter Mann. Er gehört zu den Alteingesessenen des Schweizer Bergdorfs beim Gotthardpass. „So ein Dreck, so ein Dreck“, murmelt der von einem langen Leben ausgemergelte Spaziergänger. Der „Dreck“gilt der Architektur um ihn herum. Sie hat mit dem Dorf, wie er es kennt, nichts mehr zu tun.
Das, was in Andermatt geschieht, liegt im Spannungsfeld zwischen Alpenzerstörung, Gewinnstreben und der wirtschaftlichen Rettung fast vergessener Hochgebirgswinkel. Einem unvorbereiteten Besucher kann beim Blick auf die Szenerie schon der Atem stocken. Sie wirkt, als würde der alte Passflecken mit seinen 1400 Einwohnern von den neuen, Zug um Zug entstehenden Bauten erschlagen. Diese sind höchst exklusiv und Teil eines touristischen Milliardenprojekts. Das über Jahre verschlafene Andermatt soll neu erfunden werden. St. Moritz oder Davos, beides global bekannte Edeldestinationen der Schweiz, sind die Messlatte. So hoch gelegt wurde sie von Samih Sawiris, einem 61-jährigen Milliardär, der aus einer ägyptischen Unternehmerfamilie stammt.
Er ist Kopte, also Christ, hat in Berlin Ingenieurwesen studiert. Er ist bekannt für ähnliche Riesenprojekte, etwa die Retortenstadt El Gouna am Roten Meer. Aus ihr machte Sawiris ein ägyptisches Paralleluniversum mit Villen, Restaurants und was ein zahlungskräftiges Publikum sonst so schätzt. Vergleichbar ist seine Vision für Andermatt. Dem alten einheimischen Spaziergänger im entstehenden Ferienresort gefällt diese Vision nicht. Deshalb will er namenlos bleiben: „Sonst werde ich im Dorf angefeindet.“
Es geht ein Riss durch Andermatt: Kritiker gegen Befürworter des Projekts. Der alte Mann sagt dazu nur: „So hab’ ich mir das Resort nicht vorgestellt.“Er zeigt dabei auf zwei große Riegelgebäude, die wirken wie Elefanten im Kreis von Kleintieren.
Die Pläne für das Feriengelände sind gigantisch: Hotels, Geschäfte, Häuser mit Appartements für Zweitwohnungssitze, Villen für besonders betuchte Erholungssuchende, ein Freizeitzentrum mit Hallenbad und Eislauf- sowie Konzerthalle. Dies alles soll wie ein altes Dorf zusammengestellt werden – getrennt durch gassenartige Wege.
„Andermatt Swiss Alps“nennt sich Sawiris örtliches Immobilienreich. Neben dem gerade entstehenden Ferienresort gehört noch mehr dazu: etwa das ausgedehnte, 2013 fertig gewordene Fünf-Sterne-Hotel The Chedi neben dem kleinen historischen Dorfkern von Andermatt. Sawiri dreht am ganz großen Rad: Zum Projekt zählen außerdem ein 18Loch-Golfplatz und ein Skigebiet, das momentan ambitioniert ausgebaut wird. Nimmt man alle Aktivitäten zusammen, dürfte es sich bei dem Vorhaben um das gegenwärtig größte Tourismusprojekt in den Alpen handeln. Die bisherige Investitionssumme liegt nahe an einer Milliarde Euro.
Kleinbürgerliche Welt
„Es wirkt alles zu groß und ohne Konzept zusammengewürfelt“, meint Rudi Bomatter, während er in seinem Gärtlein im Schatten des Chedi-Hotels Blumen schneidet. Der Rentner wohnt in einem Viertel, in dem die Häuser liebliche Namen wie Abendrot oder Alpenrose tragen. Eine kleinbürgerliche Welt, die eher für geruhsame Stille und weniger für die Sünden der Moderne steht.
Hier soll aber nicht der Eindruck erweckt werden, dass Sawiris über Andermatt hergefallen ist wie der Wolf über Schafe. Böser Investor zieht tumbe Bergler über den Tisch – das passt nicht. Um das Projekt einordnen zu können, muss man tief in die Geschichte eintauchen. Jahrhundertelang profitierte Andermatt von seiner Lage an der Gotthardroute. Händler brachten Geld in den Ort. Schon 1882 wurde der erste Eisenbahntunnel unter dem Pass hindurch fertiggestellt. Der Verkehr verlagerte sich unter die Erde.
Der beginnende Tourismus sorgte aber für einen Ausgleich. Mit dem 1872 eröffneten Grandhotel Bellevue hatte der Ort ein bevorzugt angesteuertes Domizil – zumindest bis zum Ersten Weltkrieg. Danach blieben die Gäste weg, der Niedergang begann. 1986 wurde das Bellevue schließlich abgerissen. An den Wintersportanlagen nagte der Zahn der Zeit. Zuletzt hatten sie fast musealen Charakter. Jahrzehntelang schien dies für die Andermatter jedoch nebensächlich zu sein. Die Fränkli kamen ja auf andere Art in die Portmonaies. Dafür sorgte das Militär.
Im Zweiten Weltkrieg hatten die Eidgenossen die Gotthardgegend zur Gebirgsfestung ausgebaut. Ihr Mittelpunkt: Andermatt. Kasernen, Magazine, Schießplätze und verbunkerte Forts führten zu einem regen Soldatenleben – bis der Kalte Krieg zu Ende ging und das Schweizer Militär zu einer epochalen Erkenntnis kam: Bergfestungen taugen im Hightechkrieg so viel wie Sandburgen gegen Meereswellen. Die Folge für Andermatt: Bis auf eine kleine Gebirgskampfschule verschwand alles Militär – mitsamt dem Geld. In den Jahren nach der Jahrtausendwende verkam der Ort und drohte abzusterben. Die Jugend suchte sich ihre Chance woanders, zog weg.
Dann tauchte Sawaris auf. Ein Hoffnungsträger. Am 18. Dezember 2005 präsentierte sich der Ägypter in der Mehrzweckhalle den Andermattern – und dies positiv, berichtete die kantonale „Urner Zeitung“: „Die Kleidung: elegant, aber nicht angeberisch.
„Es wirkt alles zu groß und ohne Konzept zusammengewürfelt.“
Rudi Bomatter, ein alteingesessener Bürger von Andermatt
Das Lächeln: permanent, aber nicht süffisant. Das Hochdeutsch: akzentfrei, aber nicht überheblich.“Sawaris sah die Chance. Zum einen war da ein Dorf, das bereit schien, nach jedem Strohhalm zu greifen, zum anderen wollte das Militär Flächen loswerden. Dadurch war Raum für Neues gewährleistet.
2007 machte die Gemeindeversammlung mit 96 Prozent Ja-Stimmen den Weg frei für Sawaris. Selbst von höchster Schweizer Ebene, dem Bundesrat, wurde Unterstützung signalisiert. Der Milliardär konnte loslegen. Jahre später zitierte ihn die „Neue Zürcher Zeitung“mit folgenden Worten: „Ich hätte mir ein Scheitern des Projektes hier oben leisten können. Für die Einheimischen hingegen wäre es fatal, wenn Andermatt nicht wieder aufleben würde.“
Gegenwärtig scheint es durchaus so zu sein, als habe sich das Dorf vitalisiert. Die einstige Tristesse des Ortskerns ist verschwunden. Da hat schon frische Farbe an Hauswänden viel bewirkt. Ein neuer Bahnhof entsteht. Auf dem Arbeitsmarkt ist Bewegung: Mit Anschlagzetteln sucht Andermatt Swiss Alps Köche, Hotelfachleute oder auch „Sports Butler“zur Leibesertüchtigung der Gäste. Gemeindepräsidentin Yvonne Baumann berichtet, junge Andermatter sähen wieder „eine Zukunft vor Ort“. Das regionale Handwerk verdient sich an den Sawiris-Bauten eine goldene Nase. Ange Furrer-Larsen, Betreiberin des Geschenkeladens „Hüttenzauber“, sagt: „Ich finde das Projekt sehr positiv. Schon durch die Eröffnung des Chedi kommt wieder viel mehr Kundschaft.“
Ganz ohne Schattenseiten ist die wirtschaftliche Entwicklung jedoch nicht. Den vorliegenden Zahlen zufolge hat Andermatt Swiss Alps im vergangenen Jahr gut 26 Millionen Euro Verlust gemacht. Wobei berücksichtigt werden muss, dass vieles noch im Bau ist. Aber selbst das Luxushotel Chedi wurde 2017 von den Gästen nicht im Sturm genommen. Die Auslastung betrug 54 Prozent. Grenzwertig, meinen Hotelerie-Experten. Das Unternehmen hingegen verweist auf wachsende Gästezahlen: „Im laufenden Jahr ist die Tendenz weiter steigend.“Ebenso habe der Verkauf von Appartements in den bereits fertiggestellten Bauten des Ferienresorts „massiv angezogen“.
Ein Blick auf die Klingel- und Postschilder in den Eingangsbereichen bestätigt die Aussage. Wer hier reinwill, muss jedoch richtig Geld mitbringen. Eine Maisonettewohnung mit 174 Quadratmetern liegt bei mehr als zwei Millionen Euro, ein 36-Quadratmeter-Domizil kostet mehr als 300 000 Euro.
Kundschaft kommt
Zu diesen Preisen passt klischeehaft ein Tessiner Paar, das am Ferienresort vorgefahren ist. Ein gesetzter Herr steuert den exklusiven roten italienischen Sportwagen, vom Beifahrersitz erhebt sich eine junge Blondine mit Pelzstola. Die beiden haben offenbar einen Termin beim Immobilienbüro von Andermatt Swiss Alps. Diensteifrig eilt ihnen ein Makler entgegen. Der Wind trägt einen Satz herüber: „Was kann ich den Herrschaften zeigen?“
Auch der alte Einheimische auf seinem Spaziergang durch das Resort hört die Worte. Da muss er noch mal den Kopf schütteln. „Von uns Andermattern kann sich das doch fast keiner leisten“, meint er. „Und die Fremden schneien hier doch nur für ein paar Wochen im Jahr rein. Ich will nicht für alle Andermatter sprechen, aber für mich geht hier meine Heimat verloren.“