„In einer eng vernetzten Welt sind auch die Wege der Krankheitserreger kürzer“
Aus Sicht von Kinderarzt Ekkehart Hamma aus Isny ist die Impfung gegen Kinderlähmung weltweit auch deshalb so wichtig, um der Rückkehr bei uns vorzubeugen
- Vor 30 Jahren wurden weltweit noch 350 000 Fälle von Poliomyelitis in 125 Ländern registriert. Auch heute ist die höchst ansteckende Infektionskrankheit nicht ausgerottet. Zum Weltpoliotag am 28. Oktober sprach Dirk Grupe mit dem Isnyer Kinderarzt Ekkehart Hamma über die Gefahren der Kinderlähmung und die Rotary-Aktion „End Polio Now!“, die in diesem Jahr 30 Jahre alt wird.
Herr Hamma, ganz einfach gefragt, was genau ist Polio?
Polio ist die Abkürzung für Poliomyelitis, eine durch Polioviren hervorgerufene Infektionskrankheit. Der deutsche Name ist Kinderlähmung, weil meist Kinder ohne Immunschutz betroffen sind. Aber auch im späteren Alter kann sie noch auftreten, sofern kein Immunschutz besteht. Rund 95 Prozent der Infizierten merken überhaupt nichts von einer Erkrankung.
Und jene, die sie merken?
Ein kleiner Teil bekommt Beschwerden, die an eine Grippe erinnern. Und bei jedem 100. Infizierten kommt es zum Befall des Nervensystems mit Lähmung von Bein- und Rumpfmuskulatur, aber auch Atem-, Sprech- und Schluckmuskulatur können betroffen sein. Je nach Verlaufsform kann die Sterblichkeit an der Erkrankung erheblich sein. Bleibenden Schäden sind häufig.
Wie wird das Virus übertragen?
Polio-Viren werden von infizierten Menschen mit dem Stuhl ausgeschieden und meist durch Schmierinfektion über mit Kot verunreinigte Hände übertragen. Auch eine Ansteckung per Tröpfcheninfektion, also Husten und Niesen ist möglich. Verschmutztes Trinkwasser kann ebenfalls eine Infektionsquelle sein.
Ist Kinderlähmung heute überhaupt noch präsent?
Auch heute leiden geschätzte 50 000 Menschen in Deutschland an den Folgen ihrer Kinderlähmung. Damit ist die Krankheit auch Jahrzehnte später in Form des sogenannten Post-Polio-Syndroms im Alter präsent. Neben allgemeinen Beschwerden wie Müdigkeit, beeinträchtigen dabei Muskel- und Gelenkschmerzen, Muskelschwäche, Lähmungen und schmerzhafte Skelettveränderungen den Alltag.
Und abgesehen vom Post-PolioSyndrom?
Weltweit stagniert die Zahl an Neuerkrankungen bei 20 Fällen im Jahr. Verglichen mit 350 000 vor 30 Jahren klingt das vernachlässigenswert. Dazu treten immer wieder Fälle von Kinderlähmung, die durch „verwilderte“Impfviren in Gegenden mit geringer Durchimpfungsrate verursacht werden. Als nicht frei von Polio gelten aktuell Afghanistan, Pakistan und Nigeria. Durch Flucht- und Wanderungsbewegungen, Reisen und Katastrophenhilfe sind in der eng vernetzten Welt auch die Wege der Krankheitserreger kürzer geworden. Würden wir in unseren Impfbemühungen bei uns oder in anderen Teilen der Welt nachlassen, hätten wir in fünf, acht oder zehn Jahren in Europa wieder Polio in erheblichem Maße. Unser Augenmerk muss deshalb auf weltweitem Impfen gegen Poliomyelitis liegen.
Wie kann man sich das in der Praxis vorstellen?
In den betroffenen Ländern greifen wir, anders als hierzulande, noch immer zur Schluckimpfung. Der Grund ist, dass wir auf diese Weise die Menschen in Massen versorgen können. In Pakistan beispielsweise stehen am Nationalfeiertag Impfteams an den großen Einfallsstraßen und fangen dort die Menschen ab. Wer geimpft ist, wird durch einen farbig lackierten Fingernagel markiert.
Das setzt eine Akzeptanz für die Impfung voraus, ist die überall gegeben?
Nein, aber in Afghanistan etwa sehen wir eine positive Entwicklung. Stammesführer und Geistlichkeit haben erkannt, dass Kinderlähmung ein Problem ist. Wenn sie die Stammesführer überzeugen können, zieht auch die Bevölkerung mit.
Rotary setzt sich nun seit 30 Jahren für die Ausrottung von Polio ein...
...das ist richtig. Dabei haben wir starke Partner, die in der Global Polio Eradication Initiative zusammengefasst sind. Mit im Boot sind dabei die WHO und Unicef. Seit zehn Jahren unterstützt uns in unserem Kampf glücklicherweise die Bill & Melinda Gates Foundation. Die Stiftung des Microsoft-Gründers gibt für jeden Euro, den wir an Spenden sammeln, zwei weitere dazu. Neben vielen Aktionen in unseren Gemeinden haben wir das Projekt „Deckel gegen Polio – 500 Deckel für ein Leben ohne Kinderlähmung“bei Rotary ins Leben gerufen. Das bedeutet: Mit dem Erlös von 500 gesammelten Plastikdeckeln von Wasseroder Saftflaschen plus der Zugabe der Bill & Melinda Gates Foundation können wir eine Impfung in einem armen Land finanzieren. Mit der Aktion „Deckel gegen Polio“steigen die Chancen, dass eines Tages kein Kind mehr an Kinderlähmung erkranken muss.