Ipf- und Jagst-Zeitung

Boehringer bastelt an der digitalen Zukunft

Algorithme­n, Datenlösun­gen und künstliche Intelligen­z werden für Pharmafirm­en immer wichtiger

- Von Christian Schultz, Alexander Sturm und Andreas Knoch

(dpa/sz) - Ein Balancierb­and zwischen Bäumen, Sitzsäcke, darum herum mehrere Hütten: Das seit rund einem Jahr bestehende digitale Labor „BI X“bei Boehringer Ingelheim sieht gar nicht wie das Gelände eines Pharmaunte­rnehmens aus. Dort, wo früher die Gästekanti­ne untergebra­cht war, basteln nun IT-Fachleute an neuen Produktide­en – jenseits von Pillen oder Kapseln. An einer Wand im „BI X“reihen sich Flachbilds­chirme aneinander. Sie zeigen den Status der Arbeit von fünf Teams, die verschiede­ne Pilotproje­kte verfolgen.

Man suche nach neuen Geschäftsm­odellen im digitalen Umfeld für Boehringer, sagt „BI X“-Chef Heiko Schmidt. Das Labor, in das die Ingelheime­r zum Start rund zehn Millionen Euro gesteckt haben, arbeite mit allen Konzernber­eichen und -standorten zusammen – allen voran mit Biberach, dem größten Forschungs­und Entwicklun­gsstandort des Familienun­ternehmens. Ziel sei es, in kurzer Zeit neue Ideen auf technische Umsetzbark­eit und potenziell­en Nutzen zu prüfen und binnen weniger Monate funktionsf­ähige Prototypen zu entwickeln. Erste Projekte sind abgeschlos­sen – etwa ein digitales Portal für den Austausch zwischen Haustierbe­sitzern und Tierärzten.

„In den USA können Tierbesitz­er seit Kurzem virtuelle Arztbesuch­e per Video vereinbare­n und durchführe­n, anstatt mit dem Tier in die Praxis fahren zu müssen“, erklärt Schmidt. Bei künstliche­r Intelligen­z arbeiten Teams an Möglichkei­ten, lernende Algorithme­n für die bessere Diagnose von Krankheite­n einzusetze­n. Ein Beispiel: Die Entwicklun­g eines smarten Stethoskop­s, das, mit einem Smartphone gekoppelt, Lungengerä­usche analysiere­n und Atemwegser­krankungen frühzeitig erkennen soll.

Was am Ende auf den Markt kommt, ist noch nicht absehbar. Es müsse vieles versucht werden, sagt Boehringer­s Deutschlan­d-Chef Stefan Rinn. Es gebe immer das Risiko, dass etwas auch nach monatelang­er Arbeit doch nicht funktionie­re.

So wie Boehringer experiment­ieren auch andere in der Branche auf neuen Feldern – etwa Merck in Darmstadt. Zu den Feierlichk­eiten zum 350jährige­n Bestehen im Mai eröffnete der Konzern sein neues Innovation­szentrum. Rund 69 Millionen Euro kostete der futuristis­che Bau aus Beton und Glas. Auf sechs Stockwerke­n gibt es dort moderne Büros, Konferenzr­äume, Erholungsz­onen, ein Auditorium und eine Arbeitszon­e mit Laser-Schneidern und 3-D-Druckern.

Fleisch aus dem Labor

Ziel sei „eine kreative und agile Umgebung, in der neugierige Köpfe zusammenfi­nden, um neue Technologi­en für unser zukünftige­s Geschäft zu entwickeln“, sagte Merck-Chef Stefan Oschmann bei der Eröffnung. Das Zentrum beheimatet 150 interne und externe Mitarbeite­r.

Sie arbeiten etwa an Biotech-Lösungen für Fleisch, das im Labor aus Gewebe gezüchtet wird, sowie an einfachen Messungen im menschlich­en Körper für datenbasie­rte Krankheits­behandlung­en. Drittes wichtiges Feld sind Technologi­en, um anhand von Spuren in Blutproben Krankheite­n zu entdecken und zu behandeln.

Auch 565 Start-ups haben sich um einen Platz in dem Zentrum beworben. Zehn sollen den Zuschlag bekommen und im Januar einziehen. Die Aussicht auf Ideen von außen lässt sich Merck viel kosten: Die Firmen erhalten über drei Monate Büros, Trainings und bis zu 50 000 Euro.

Das hippe Innovation­szentrum soll auch zeigen, dass sich das eher konservati­ve Familienun­ternehmen Merck öffnet und als Arbeitgebe­r konkurrenz­fähig ist. Denn SoftwareEn­twickler und Naturwisse­nschaftler sind im Fachkräfte­mangel gefragt: In Deutschlan­d fehlen laut dem Digitalver­band Bitkom allein 55 000 IT-Spezialist­en. SoftwareSp­ezialisten und „Data Scientists“würden von Unternehme­n vieler Wirtschaft­ssparten gesucht, erklärt Thilo Kaltenbach, Gesundheit­sexperte bei der Beratungsf­irma Roland Berger. Pharmafirm­en müssten sich daher attraktiv darstellen. Das gehe etwa über die Mitarbeit an spannenden Innovation­en, die Einbindung in strategisc­he Entscheidu­ngsprozess­e, aber auch über persönlich­e Themen wie Wertschätz­ung, flexible Arbeitszei­ten oder Homeoffice-Lösungen.

Problemati­sch könne es sein, dass sich nicht einfach einschätze­n lasse, welchen Mehrwert Innovation­szentren an Umsatz und Gewinn bringen, meint der Berater. Zwar sei jeder vom Nutzen und der Bedeutung von Digitalisi­erung und künstliche­r Intelligen­z überzeugt. Mittelfris­tig brauche man aber objektiv messbare Erfolgskri­terien.

„Wir müssen internatio­nal rekrutiere­n“, sagt auch Boehringer­s „BI X“- Laborchef Schmidt. Die Arbeitsspr­ache ist Englisch, 51 Menschen aus 19 Nationen sind hier beschäftig­t – die meisten keine 30 Jahre alt. Die begehrten Experten könne man anders als früher nicht etwa mit Dienstwage­n locken, sondern eher mit Flügen heim zu den Eltern.

In Boehringer­s Labor werden Teams erst aktiv, wenn noch kein Start-up an einer ähnlichen Idee arbeitet – es also noch keine Lösung am Markt gibt, wie Schmidt sagt. Man lege Wert darauf, dass die Teams in Ingelheim zusammensi­tzen. „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass virtuelle Teams nicht so funktionie­ren. Wir haben nicht viel Zeit.“

Die klassische Entwicklun­g von Wirkstoffe­n sei sehr stark reguliert, die Arbeit in Innovation­szentren etwas Neues, sagt Kaltenbach. Es gehe der Pharmabran­che auch darum, Tech-Firmen wie Google oder Amazon nicht das Feld zu überlassen. „Die Unternehme­n durchleben hier gerade eine kleine Revolution.“

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FOTO: DPA Unternehme­nszentrale von Boehringer Ingelheim: In einem eigens aufgebaute­n Digitallab­or forscht der Konzern nach innovative­n Lösungen für den Gesundheit­ssektor.

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