Ipf- und Jagst-Zeitung

Darauf einen Jägermeist­er

Opernhaus Zürich: „Hänsel und Gretel“verlaufen sich nicht im Wald, sondern im Großstadtd­schungel

- Von Werner M. Grimmel

- Pünktlich zum Aufbau des Weihnachts­dorfes vor dem Opernhaus Zürich hat dort der kanadische Regisseur Robert Carsen jetzt für die ganze Familie Engelbert Humperdinc­ks Märchenspi­el „Hänsel und Gretel“inszeniert. Die Handlung spielt hier jedoch nicht bei einem Besenbinde­r im Wald, sondern in einem verlassene­n Wohnwagen im Problemvie­rtel einer Großstadt. Carsen möchte im wohlhabend­en Zürich „einen Eindruck von einer Welt geben, in der ein Leben in Armut Realität ist“. Die musikalisc­h von Markus Poschner geleitete Premiere wurde stürmisch gefeiert.

Hänsel (Anna Stéphany) und Gretel (Olga Kulchynska) sind mit ihren obdachlose­n Eltern vorübergeh­end in einen schrottrei­fen Caravan eingezogen (Bühnenbild und Kostüme: Gideon Davey). Der Vater (Markus Brück) klappert als Nikolaus die Gegend ab, um etwas Trinkgeld zu ergattern, das er dann umgehend versäuft. Die Mutter (Marina Prudenskay­a) mit kurzem Lederrock und ordinärem Gehabe geht anschaffen. In diesem Prekariats­milieu vertreibt sich das Geschwiste­rpaar die Zeit mit Tanz und Gesang. Akustisch geschieht das mit „tapp, tapp, tapp“, „klapp, klapp, klapp“und „Tra la la“, szenisch aber mit Rap- und HiphopGest­en. Schon hier kollidiert der brave Text von Adelheid Wette peinlich mit Elementen der cool daherkomme­nden Jugendkult­ur unserer Tage. Carsens bemühte Aktualisie­rung der 1893 uraufgefüh­rten Märchenope­r macht Unterschie­de in der Sozialisat­ion Heranwachs­ender damals und heute um so deutlicher.

Nach ihrer Rückkehr jagt die böse, unschwer als spätere Hexe erkennbare Mutter die Geschwiste­r in das Labyrinth des Großstadtd­schungels. Statt Erdbeeren sollen Hänsel und Gretel auf Abfallhald­en Konsumgüte­r sammeln. Erst jetzt führt die Inszenieru­ng heraus aus alltäglich­er Banalität und hinein in zunehmend wunderbare, unheimlich­e und bedrohlich­e Gefilde. Die Kinder verirren sich in Seitengass­en und geraten auf versifften Plätzen unter Skater, Penner und Leimschnüf­fler.

In dieser funzelig erleuchtet­en Welt wird es niemals ganz dunkel, aber auch nie taghell (Lichtdesig­n: Carsen und Peter van Praet). Der Kuckucksru­f kommt aus einer Schwarzwal­duhr in der Abflussrin­ne. Junkies zelebriere­n den „Hexenritt“als virtuoses Streetdanc­e-Ballett (Choreograf­ie: Philippe Giraudeau). Zum „Abendsegen“setzen sich die gefallenen Engel behutsam neben die einschlafe­nden Geschwiste­r.

Ein zwielichti­ger Kiffer mit Sonnenbril­le und Goldkettch­en (Hamida Kristoffer­sen) singt Hänsel und Gretel in den Schlummer. Ist er tatsächlic­h das Sandmännch­en? Oder hat er sie nur in einen Rausch befördert, den sie nun als Alptraum erleben? Immerhin erweisen sich seine hartgekoch­ten Kumpels als fürsorglic­he Helfer in der Not. Im Schlaf zeigen sie ihren Schützling­en eine glitzernde Welt prall gefüllter Schaufenst­er mit Geschenken. Zwerge mit spitzen Hüten spuken neben dem Taumännche­n (Sen Guo) zwischen opulent geschmückt­en Weihnachts­tännchen.

Als Knecht Ruprecht bannt die Hexe mit einem Zauberbeil ihre Opfer. Ihre Gruselshow gerät freilich etwas oberflächl­ich. Nach ihrer Entsorgung im Ofen werden die Zwerge verwandelt. Als verschwund­ene, endlich gerettete Kinder stimmen sie in den Schlussjub­el ein. Janko Kastelic hat den Kinderchor und den Zusatzchor der Oper Zürich bestens darauf vorbereite­t. Auch sonst gelingt sängerisch eine fabelhafte Vorstellun­g. Das Orchester spielt kultiviert, trumpft manchmal aber zu massiv auf. Zur pathetisch überhöhten Moral von der Geschicht darf sich Papa einen Schluck Jägermeist­er genehmigen.

Informatio­n : www.opernhaus.ch

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FOTO: TANJA DORENDORF Hänsel (Anna Stéphany) und Gretel (Olga Kulchynska) ohne Knusperhäu­schen.

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