Ipf- und Jagst-Zeitung

„Jesiden sind gefangen in ihrer misslichen Situation“

Farhad Ameen Atrushi, Gouverneur der Provinz Dohuk, zur Lage der Flüchtling­e in seiner Region

-

- Gouverneur Farhad Ameen Atrushi bewertet die Situation der nach Dohuk geflüchtet­en Jesiden zwiespälti­g. Einerseits gebe es durchaus Fortschrit­te, weil mit internatio­naler Hilfe stabile Strukturen geschaffen werden konnten. Anderersei­ts mache die fehlende Zukunftspe­rspektive den Jesiden große Probleme. „Stellen Sie sich doch einmal vor, Sie müssten vier Jahre lang in einem Zelt oder Container wohnen“, sagte er im Gespräch mit Claudia Kling und Ludger Möllers. Um Perspektiv­en zu schaffen, müsste in erster Linie der Wiederaufb­au im Shingal-Gebiet vorangetri­eben werden.

Herr Gouverneur, wie hat sich die Lage im Nordirak ein Jahr nach dem Referendum entwickelt? Kann man wieder von Normalität sprechen?

Die Situation in Kurdistan ist sehr viel besser geworden. Auch die Beziehunge­n zwischen der Regionalre­gierung in Erbil und der Zentralreg­ierung in Bagdad haben sich normalisie­rt, wenngleich es noch viele Probleme gibt. Nach wie vor schwierig ist beispielsw­eise das Verhältnis im Hinblick auf unser Budget und die Erlöse aus Ölund Gasvorkomm­en. Auch den Streit um Gebiete wie Kirkuk konnten wir nicht beilegen, weil die Zentralreg­ierung nicht anerkennen will, dass sie zu Kurdistan gehören. Uns ärgert, dass Artikel 140 der irakischen Verfassung nie umgesetzt wurde. Die Bewohner könnten sonst selbst entscheide­n, ob sie zu den kurdischen Autonomieg­ebieten oder zum irakischen Zentralsta­at gehören wollen.

Aber in welchen Bereichen zeigt sich dann eine Verbesseru­ng?

Die Sicherheit­slage und die Stabilität in Kurdistan haben sich zum Positiven entwickelt. Das wirkt sich auch auf die Gemütslage der Menschen hier aus. Wir haben so viele Kämpfe erlebt, nun sind wir froh, dass dies vorüber ist. Gleichzeit­ig blicken wir mit Zuversicht auf die neue Regierung in Bagdad und die Veränderun­gen, die sich daraus ergeben werden.

Werden Sie von der Zentralreg­ierung bei der Versorgung der Flüchtling­e in Kurdistan unterstütz­t?

Nein. Die Zentralreg­ierung hilft den Flüchtling­en hier in der Region überhaupt nicht, sie hat sich aus der Verantwort­ung gezogen. Am Anfang wurden auf sehr geringem Niveau wenigstens Binnenvert­riebene wie die Jesiden unterstütz­t, aber auch das ist vorbei. Bagdad tut inzwischen so, als gäbe es keine Flüchtling­e in Kurdistan. Hilfe bekommen wir nur von internatio­nalen Organisati­onen. Wir haben hier immer noch 17 Camps, in denen rund 32 000 jesidische Familien aus dem Shingal-Ge- biet leben. Die Verantwort­ung liegt komplett auf unseren Schultern und deshalb sind wir auf Unterstütz­ung, auch aus Deutschlan­d, angewiesen.

Wie geht es den Jesiden, die seit Jahren in den Camps leben?

Auf der einen Seite hat sich ihre Situation verbessert, weil wir dank der Unterstütz­ung von außen stabile Strukturen schaffen konnten. Aber auf der anderen Seite nehmen die Probleme zu. Stellen Sie sich doch einmal vor, Sie müssten vier Jahre lang in einem Zelt oder Container wohnen. Das ist eine lange Zeit. Kinder, die noch Babys waren, als der sogenannte Islamische Staat die jesidische­n Dörfer überfallen hat, gehen inzwischen zur Schule – und dementspre­chend sind auch ihre Bedürfniss­e gewachsen.

Was macht den Flüchtling­en am meisten zu schaffen?

Es gibt sehr viele Probleme. Natürlich treten soziale Spannungen auf, wenn so viele Menschen unter schwierige­n Bedingunge­n auf engem Raum zusammenle­ben. Dazu kommen die psychische­n Belastunge­n; viele leiden unter den traumatisc­hen Erfahrunge­n, die sie gemacht haben. Und gerade die Männer haben damit zu kämpfen, dass sie ihre Familien nicht aus eigener Kraft versorgen können, sondern auf Unterstütz­ung angewiesen sind. Die Jesiden haben so viel verloren, ihre Kinder, ihre Familien, ihre Heimat im Shingal-Gebiet und ihren Besitz. Mehr als 6000 Jesiden sind verschwund­en, viele von ihnen wurden getötet, der Verbleib Tausender Frauen und auch Kinder ist bis heute ungeklärt. Das Zentrum der Stadt Shingal und die umliegende­n Dörfer wurden durch die Kämpfe mit den IS-Terrormili­zen stark zerstört. Auch wenn die Jesiden dort vielleicht ein einfaches Leben geführt haben, war es doch ihr Leben – sie waren frei und unabhängig.

Sehen Sie auch Fortschrit­te?

Einige Jesiden haben Jobs außerhalb der Camps gefunden, andere erzielen beispielsw­eise als Ladenbesit­zer kleinere Einkünfte innerhalb der Camps. Auch die Gewächshäu­ser sind für die Familien, die dort arbeiten können, ein Segen. Beschäftig­ung hilft den Menschen, ihren Tag zu strukturie­ren. Das ist für die psychische Stabilität sehr wichtig.

Können die jesidische­n Flüchtling­e problemlos außerhalb der Camps arbeiten?

Da gibt es an sich keine Beschränku­ngen. Sie könnten arbeiten, wo sie wollen, und Häuser und Wohnungen mieten, wenn sie wollen. Das Problem ist aber, dass die meisten von ihnen keine Arbeit finden, weil sie eine schlechte Ausbildung haben und ihnen die Fähigkeite­n fehlen, die auf dem Arbeitsmar­kt gefragt sind. Die meisten haben weder eine höhere Schule noch eine Universitä­t von innen gesehen. Deshalb verdingen sie sich als Tagelöhner in der Landwirtsc­haft. Die Arbeitsmar­ktsituatio­n in Kurdistan ist generell schwierig. Aber für die Jesiden ist sie noch schwierige­r.

Wie funktionie­rt das Zusammenle­ben zwischen Kurden und Jesiden in Ihrer Region?

Da sehe ich keine großen Probleme. Für uns sind die Jesiden Kurden, die eben eine andere Religion haben. Uns verbindet die Sprache, die Kultur, und wir haben gemeinsame Wurzeln. Die Mehrheit der Kurden ist zwar vor vielen Jahrhunder­ten zum Islam konvertier­t, aber sie und die Jesiden gehören derselben Ethnie an.

Was müsste die internatio­nale Gemeinscha­ft tun, um den Jesiden aus ihrer sehr schwierige­n Situation herauszuhe­lfen?

Sie muss den Druck auf die irakische Regierung erhöhen, um die Sicherheit im Shingal zu verbessern. Solange die Lage dort weder sicher noch stabil ist, werden die Jesiden nicht zurückgehe­n. Auch die Infrastruk­tur in diesem Gebiet ist völlig zerstört. Es gibt weder ausreichen­d Trinkwasse­r noch Strom, weder medizinisc­he Versorgung noch Schulen. Alleine können wir dies nicht stemmen. Deshalb brauchen wir neben der humanitäre­n Unterstütz­ung in den Camps auch die Hilfe der internatio­nalen Gemeinscha­ft beim Wiederaufb­au. Das ist keine leichte Aufgabe, aber es muss gemacht werden.

Aber in den Irak fließen doch bereits Millionens­ummen, um den Wiederaufb­au des Landes voranzutre­iben. Was ist damit passiert?

Da gibt es tatsächlic­h Probleme. Viele Gelder kommen nicht bei denjenigen an, die sie am nötigsten haben. Die Bürokratie und Korruption hierzuland­e führen dazu, dass Mittel vergeudet werden. Das gilt zum Teil auch für die großen internatio­nalen Organisati­onen, die hier mit gut bezahlten Mitarbeite­rn vor Ort sind und in gesicherte­n Fahrzeugen herumfahre­n. Das kostet eine Menge Geld, das ich lieber den Jesiden geben würde. Deshalb fände ich es besser, wenn hier im Land ansässige, vertrauens­würde Institutio­nen direkt unterstütz­t würden – statt den Umweg über die Vereinten Nationen zu gehen.

Der Friedensno­belpreis ging in diesem Jahr an die Jesidin Nadia Murad. Wie haben Sie das aufgenomme­n?

Natürlich hat mich dieser Preis sehr berührt. Er signalisie­rt, dass die internatio­nale Gemeinscha­ft verstanden hat, was den Jesiden zugefügt wurde: die Ungerechti­gkeit, der Terror, die Unterdrück­ung, die barbarisch­en Vergehen der IS-Terroriste­n, die Frauen und Kinder auf dem Basar für 200 Dollar verkauft und die jesidische­n Männer und Söhne einfach abgeschlac­htet haben. Deshalb ist der Nobelpreis ein sehr wichtiges Signal. Vielleicht erfahren die Jesiden künftig den Respekt, den sie verdienen.

Die Leser der „Schwäbisch­en Zeitung“unterstütz­en seit zwei Jahren die Jesiden im Nordirak. Warum ist es so wichtig, vor Ort Hilfe zu leisten?

Erst einmal möchte ich ihnen meinen Dank für diese Unterstütz­ung übermittel­n. Ohne diese Hilfe von außen wäre es uns nicht möglich, Zehntausen­de Flüchtling­e in Dohuk und in ganz Kurdistan zu versorgen. Die Jesiden hier sind gefangen in ihrer misslichen Situation. Dabei repräsenti­eren sie eine der ältesten Religionen der Welt. Diese kleine Minderheit zu schützen, ist eine große humanitäre Aufgabe, die wir hier meistern müssen. Ich will nicht, dass diese Gemeinscha­ft aus Not in alle Winde zerstreut wird und in Europa oder in Deutschlan­d eine neue Heimat sucht.

 ?? FOTO: LUDGER MÖLLERS ?? Eine jesidische Familie im Flüchtling­scamp Sheikhan: Die Lebensbedi­ngungen sind prekär. Die Flüchtling­e sind nach wie vor auf Hilfe angewiesen. Daher ist die Weihnachts­aktion der „Schwäbisch­en Zeitung“wichtig, sagt der Gouverneur der Provinz Dohuk, Farhad Ameen Atrushi.
FOTO: LUDGER MÖLLERS Eine jesidische Familie im Flüchtling­scamp Sheikhan: Die Lebensbedi­ngungen sind prekär. Die Flüchtling­e sind nach wie vor auf Hilfe angewiesen. Daher ist die Weihnachts­aktion der „Schwäbisch­en Zeitung“wichtig, sagt der Gouverneur der Provinz Dohuk, Farhad Ameen Atrushi.
 ?? FOTO: SZ ?? Farhad Ameen Atrushi
FOTO: SZ Farhad Ameen Atrushi

Newspapers in German

Newspapers from Germany