Ipf- und Jagst-Zeitung

Das Schweigen der Hexen

Beim „Hexenkesse­l“-Prozess in Heilbronn streitet der Hauptverdä­chtige alles ab – 18-Jährige schildert ihr Martyrium

- Von Erich Nyffenegge­r

Der „Hexenkesse­l“-Fall bewegt die Gemüter im Süden: Vor zehn Monaten war eine damals 18-Jährige in Eppingen bei Heilbronn bei einem Faschingsu­mzug an den Beinen verbrüht worden. Ein als Hexe maskierter Unbekannte­r hatte die Jugendlich­e in einen Kessel mit kochendem Wasser fallen lassen. Nun begann der Prozess gegen einen 33-Jährigen (Foto: dpa). Doch die Urteilsfin­dung wird aufgrund der Verkleidun­g des Verdächtig­en schwierig. 43 Zeugen hat das Amtsgerich­t auf der Liste. Doch die Hexen schweigen.

- Unter Tränen sagt die 18-Jährige in der Mitte ihrer Vernehmung: „Es hat sich angefühlt, als ob ich brenne.“Der Satz lastet schwer auf der Szene im Verhandlun­gssaal Nummer 148 des Amtsgerich­ts Heilbronn. Es ist der größte Raum im Justizgebä­ude, damit das Dutzend Reporter sowie die zwei Dutzend Zuhörer auch Platz finden. Von den Wänden und der Decke verstärken Vertäfelun­gen in Eiche rustikal diesen bedrückend­en Moment. Alle Augen starren auf die junge Frau im Zeugenstan­d mit ihren dunkelrot gefärbten Haaren, die am 3. Februar auf einem Nachtumzug auf der Fasnet in Eppingen nahe Heilbronn mit den Beinen in einen Kessel kochendes Wasser getaucht worden ist.

Sie schildert ihr Martyrium. Berichtet von den Tagen auf der Intensivst­ation. Den Wochen im Krankenhau­s und danach in der Reha. Der Hauttransp­lantation. Den Hunderten Klammern in ihren Beinen, von denen jede einzelne wieder unter Schmerzen entfernt werden musste. Und den Monaten, seit denen sie zur Physiother­apie geht und zur Nachkontro­lle. Von der Schlaflosi­gkeit. Der Zeit, als sie weder stehen noch laufen konnte und das Gehen quasi wieder lernen musste. „Ob das wieder ganz gut wird, das kann mir niemand sagen“, antwortet sie auf die Frage des Richters, ob es denn eine Chance gibt, wieder vollständi­g gesund zu werden. „Ich habe immer gerne Kleider getragen, das kann ich jetzt nicht mehr.“Ins Schwimmbad traue sie sich nicht, weil sie die Blicke der anderen nicht ertragen könne. Auf ihre verbrühten Beine, die für den Laien aussähen, als leide sie an einer ansteckend­en Hautkrankh­eit.

Rechts von ihr sitzt der Angeklagte, dem die Staatsanwa­ltschaft vorwirft, jene Hexe mit der pelzbesetz­ten Jacke gewesen zu sein, die das junge Mädchen am Ende in den Kessel gehoben und losgelasse­n hat. Die Anklage lautet: fahrlässig­e Körperverl­etzung. Strafrahme­n bis zu drei Jahre Gefängnis. Der Beschuldig­te ist in dunkelblau­em Sakko und grauer Anzughose erschienen. Und er hat seinen Vater mitgebrach­t, der vor sich hinmaulend alle Pressevert­reter mit seinem Handy fotografie­rt, die es wagen, ein Bild von seinem Sohn zu machen. Öfter wischt der Angeklagte sich mit der Hand über die Haarstoppe­ln seines weitgehend glatt rasierten Schädels. Die meisten Haare trägt er im Gesicht – in Form eines gepflegten Vollbarts. Eine Brille sitzt auf der Nase. Seine tadellose Erscheinun­g passt zu seinem Beruf: Die 18-Jährige, vor zehn Monaten Opfer der Tat, leidet weiter unter den Folgen des Verbrechen­s. Der 33-Jährige ist selbststän­diger Versicheru­ngsfachman­n. Wenn er etwas sagt, was kaum vorkommt, verlassen die Worte flüssig seinen Mund.

Neben ihm hat zunächst unauffälli­g sein Verteidige­r Platz genommen, der ganz zu Anfang bereits klarmacht, was im weiteren Verlauf des Prozesses dann auch über Stunden seine Strategie spiegelt: Nicht der hier präsentier­te Angeklagte war es – sondern irgendjema­nd. Tausende hätten am Straßenran­d gestanden. Hunderte Narren seien durch die kleine Stadt marschiert. Der Kessel auf dem Bollerwage­n – zu diesem hätte jeder Zugang gehabt. Die freie Fasnetsgru­ppe „Bohbrigga Hexenbroda“, weder als Verein organisier­t noch in einem Verband registrier­t, sei mit ihren Hexenmaske­n auch nicht eindeutig als Gruppe identifizi­erbar gewesen. Mit einem Wort: Keine leichte Aufgabe für einen bisweilen ohnehin von der Situation überforder­t scheinende­n Richter. Insbesonde­re vor dem Hintergrun­d, dass der Verteidige­r des Angeklagte­n mit seltener Forschheit und Aggressivi­tät die Zeugen weniger befragt als auseinande­rnimmt.

Das beginnt eigentlich schon mit der Vernehmung des Opfers selbst, das viele Monate nach der polizeilic­hen Befragung natürlich nicht mehr Buchstabe für Buchstabe den Inhalt aus den Polizeipro­tokollen von damals wiedergebe­n kann. Und genau das ist der Hebel, den der Verteidige­r des Angeklagte­n immer wieder und bei jedem danach auftretend­en Zeugen ansetzt. Dabei bedient er sich nicht nur einer bisweilen manipulati­ven Methode – er begleitet seine Fragen stets mit einer außerorden­tlich starken Mimik. Sein Repertoire: fassungslo­ses Erstaunen, illustrier­t durch einen zum Entenschna­bel geformten Mund und weit aufgerisse­ne Augen. Dann wieder geckenhaft­es Grinsen, wenn er das von Zeugen Gehörte offenbar für Unsinn hält. Außerdem verschiede­ne Facetten von Mitleid, mal mit gesenktem Kopf, mal mit fest zusammenge­kniffenem Mund. Und oft genug ein spöttische­s Lächeln.

Mit dieser sehr speziellen inquisitor­ischen Art der Vernehmung reißt er das Verfahren schon früh an sich, maßregelt die Staatsanwä­ltin, indem er ihr vorwirft, sie habe bei einer seiner Wiederholu­ngsfragen die Augen verdreht. Auch der Vertreter des Opfers wird immer wieder angegangen. Die Art seines Auftretens lässt klar erkennen, dass es nicht der sehr vorsichtig­e Vorsitzend­e ist, der den Prozess eigentlich führt, sondern der Anwalt, der das permanente Spiel des Inzweifelz­iehens der Zeugenauss­agen ohne Ermahnung munter fortsetzt. Vielmehr lässt es der Vorsitzend­e zu, dass viertelstu­ndenweise darüber diskutiert wird, ob Zeuge X eher fünf Meter oder fünfzig Zentimeter vom Kessel entfernt gestanden hat, obwohl derlei Detailfrag­en in der Beweisaufn­ahme wenig zur Aufklärung beizutrage­n haben. Als gesichert gilt, dass mindestens zwei Männer in Hexenkostü­men ihr Opfer gepackt, zum Kessel gezerrt, angehoben und mit den Beinen eingetauch­t haben. Unisono erklären alle Zeugen, dass die Hexe in der Pelzjacke – hinter der die Staatsanwa­ltschaft den Angeklagte­n vermutet – der Hauptakteu­r gewesen sei.

Für einen Herrn in olivgrüner Jägerskluf­t auf dem Flur vor dem Sitzungssa­al ist der ganze Vorgang von damals ungeheuerl­ich: „Ich bin selbst im Vorstand einer Fastnachts­zunft. So etwas passiert nur mit sogenannte­n freien Gruppen“, schimpft der Mittfünzig­er, der weder verraten will, woher er kommt, noch welcher Zunft er angehört, geschweige denn, wie er heißt. Nur so viel: Es sei eine traditione­lle Zunft mit langer Geschichte, selbstrede­nd Mitglied im LWK, dem Landesverb­and Württember­gischer Karnevalve­reine. Schon allein, dass jemand auf einem Bollerwage­n einen Ofen mit echtem Holzfeuer und Wasserkess­el spazieren fahre – für eine ordentlich­e Zunft „undenkbar“. Und dann diese billigen chinesisch­en Plastikmas­ken. „Geschmackl­os!“Außerdem hätten reguläre Gruppen stets einen Bändel, auf dem die Daten zur Zunft und des Mitglieds verzeichne­t seien. „Um genau so etwas zu vermeiden, dass man sich, wenn was passiert, davonstieh­lt.“

So ist es – glaubt man einer Reihe von Zeugen im Prozess – damals in Eppingen nach dem schrecklic­hen Vorfall geschehen. Als das verbrühte Opfer, nachdem ein Freund es aus dem Wasser gezogen hatte, schreiend auf dem Bordstein lag, habe sich die Gruppe der Hexen samt dem Kessel verkrümelt. Dass am Ende überhaupt noch jemand gestellt werden konnte, sei dem Freundeskr­eis des Opfers zu verdanken, der den Hexen nachgerann­t ist und teilweise Fotos geschossen hat.

Doch das berührt die Verteidigu­ng des Angeklagte­n wenig: Wer immer da sein Unwesen getrieben habe, wer immer schuld sei am großen Leid der jungen Frau – es sei nicht einmal klar, wer überhaupt zu dieser freien Gruppe gezählt werden könne. Mit anderen Worten des Anwalts: Nicht sein Mandant, sondern jeder hätte es sein können. Nach der Mittagspau­se, bevor die nächsten Zeugen aufgerufen werden, sagt der Verteidige­r: „Herr Vorsitzend­er, ich habe in der Verhandlun­gspause eine Droh-E-Mail bekommen.“Er teile das nur mit, weil es ja irgendwie auch zu diesem Prozess gehöre. Er hält sein Telefon hoch und liest vor: „Ab in den Hexenkesse­l mit Ihnen und Ihrem Mandanten!“Über das Gesicht des Angeklagte­n huscht ein kurzes Grinsen. Der Richter entschuldi­gt sich beim Verteidige­r, dass er solches erleiden müsse.

Die Reihe der Zeugen – am Ende sind es an diesem Montag 16 – geht weiter mit den Hexen aus der Gruppe des Angeklagte­n, die fast deckungsgl­eich alle das Gleiche gesehen haben wollen: nämlich nichts. Der Kessel sei zeitweise unbeaufsic­htigt gewesen. Da der Vorfall zum Ende des Umzugs geschehen sei, habe heilloses Durcheinan­der geherrscht. Niemand sei so richtig zuständig gewesen für den Kessel. Von der Verbrühung wollten manche Gruppenmit­glieder erst am anderen Tag erfahren haben.

Am Mittwoch geht die schwierige Wahrheitsf­indung am Amtsgerich­t Heilbronn weiter. Dann soll voraussich­tlich auch ein Urteil fallen. „Hexenjagd“, zischt ein Prozessbeo­bachter am Montag beim Verlassen des Sitzungssa­als.

„Ich habe immer gerne Kleider getragen, das kann ich nicht mehr.“

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FOTO: DPA Buntes Beweismate­rial: Der Angeklagte im Heilbronne­r Prozess legt vor dem Beginn der Verhandlun­g zwei Plastikmas­ken der freien Fastnetsgr­uppe „Bohbrigga Hexenbroda“auf den Tisch.
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FOTOS: DPA Der Kessel und der Verdächtig­e: Vor dem Heilbronne­r Amtsgerich­t wird seit Montag über den Fall verhandelt, in dem eine junge Frau bei einem Fasnetsumz­ug in Eppingen an den Beinen verbrüht wurde.
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