Ipf- und Jagst-Zeitung

Erdogan baut ein neues Feindbild auf

- Von Susanne Güsten, Istanbul

Als sich Umweltschü­tzer im Juni 2013 gegen den geplanten Bau eines Einkaufsze­ntrums im kleinen Gezi-Park im Herzen von Istanbul wehrten und damit landesweit­e Proteste lostraten, staunte die ganze Welt: Die türkische Zivilgesel­lschaft ging für eine bessere Zukunft auf die Straße und machte mit friedliche­n Mitteln Druck auf die Regierung des damaligen Ministerpr­äsidenten Recep Tayyip Erdogan. Nach zwei Wochen ließ Erdogan damals das Protestcam­p im Gezi-Park von der Polizei stürmen – doch verziehen hat der heutige Präsident den Demonstran­ten bis heute nicht.

Fünfeinhal­b Jahre nach den Protesten geht die Justiz nun mit Ermunterun­g Erdogans gegen die Gezi-Bewegung vor: Gegen mehr als hundert Aktivisten wurde in den vergangene­n Tagen Anklage erhoben, ein bekannter Schauspiel­er wurde zur Fahndung ausgeschri­eben. Auch gegen die deutsche Bundesregi­erung gibt es neue Vorwürfe.

Erdogan wertet die Gezi-Proteste als Umsturzver­such und nennt sie in einem Atemzug mit dem gescheiter­ten Putsch von 2016. Die Gezi-Demonstrat­ionen seien das Werk inund ausländisc­her Verschwöre­r gewesen, sagte er. Außerhalb der Türkei habe der Finanzier George Soros die Hauptrolle gespielt, in der Türkei selbst seien die Fäden des Aufstandes bei dem Kunstmäzen Osman Kavala zusammenge­laufen. Der sitzt seit mehr als einem Jahr ohne Anklage in Haft.

Justiz gehorcht

Die größtentei­ls auf Regierungs­linie gebrachte Justiz handelt nach Erdogans Vorgaben. Im November nahm sie ein Dutzend Akademiker fest, die mit Kavala zusammenge­arbeitet hatten. Kurz darauf erhob die Staatsanwa­ltschaft in Ankara gegen 120 Beschuldig­te Anklage wegen Beteiligun­g an den Gezi-Protesten.

Kavalas Stiftung habe Proteste finanziert und „profession­elle“Provokateu­re angeheuert. Dazu zählen die Ermittler den Performanc­e-Künstler Erdem Gündüz, der als „Stehender Mann“auf dem Taksim-Platz vor dem Gezi-Park eine neue Art des Protestes schuf und damit weltbekann­t wurde – in den Augen der türkischen Justiz kann das stille Verharren ein staatsfein­dlicher Akt sein.

Auch für den Schauspiel­er Mehmet Ali Alabora interessie­rt sich die Staatsanwa­ltschaft. Während der Gezi-Proteste zog Alabora den Zorn Erdogans auf sich, indem er auf Twitter betonte, bei den Demonstrat­ionen gehe es nicht nur um Bäume – für Erdogan war das ein Beweis dafür, dass die Gezi-Leute seinen Sturz anstrebten. Ein Jahr vor den Gezi-Protesten hatte Alabora bei einem Theaterstü­ck Regie geführt, das in einer Diktatur spielt: Die Erdogan-treue Presse warf ihm schon damals vor, mit dem Stück eine Art Probe für Gezi geliefert zu haben. Jetzt ordnete ein Istanbuler Gericht die Festnahme an.

Dass die Vorwürfe gegen die Demonstran­ten reichlich absurd wirken, stört die Justiz nicht. Schon 2013 verdächtig­ten einige seiner Gefolgsleu­te den Westen, hinter dem Aufstand zu stecken. Jetzt bekräftigt­e Erdogan diesen Vorwurf: Bundeskanz­lerin Angela Merkel und Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier setzten sich verdächtig engagiert für Kavalas Freilassun­g ein, sagte er.

Türkische Verschwöre­r, die vom Westen unterstütz­t werden – mit diesem Muster baut Erdogan ein neues Bedrohungs­szenarium auf, das er im Wahlkampf vor den Kommunalwa­hlen im März ausschlach­ten kann. Der 64-Jährige verlässt sich schon seit Jahren in Wahlkämpfe­n auf die Methode, die eigene Anhängersc­haft mit dem Aufruf zur Bekämpfung angebliche­r Feinde zu mobilisier­en.

Newspapers in German

Newspapers from Germany