Ipf- und Jagst-Zeitung

Entsetzen in der heilen Weihnachts­welt

Der neue Anschlag zeigt, dass es absolute Sicherheit nicht gibt – 150 Millionen Besucher auf Weihnachts­märkten

- Von Christoph Arens

(KNA) - Schon wieder ein Weihnachts­markt als Ziel: Zwei Jahre nach dem Anschlag auf dem Berliner Breitschei­dplatz hat es in Straßburg erneut Tote und Verletzte gegeben. Schon im Dezember 2000 hatten Islamisten den Weihnachts­markt der größten Stadt des Elsass im Visier. Der Anschlag wurde nur knapp vereitelt. Gleiches gilt für die 2017 aufgedeckt­en Pläne von Islamisten für einen Anschlag auf den Essener Weihnachts­markt.

Die Märkte gelten bei Experten als besonders verletzlic­h: Sie sind nur schwer zu schützen. Zugleich garantiere­n solche Taten maximale Aufmerksam­keit und Entsetzen. „Angriffe auf Weihnachts­märkte sind perfide, weil die Täter bewusst einen Ort auswählen, der als Sehnsuchts­ort und Ort der Begegnung zur Weihnachts­zeit in der Bevölkerun­g fest verankert ist“, sagte der Hauptgesch­äftsführer des Deutschen Schaustell­erbunds, Frank Hakelberg, am Mittwoch in Berlin. Die Menschen wollten in eine romantisch­e Welt eintauchen, die mit positiven Kindheitse­rinnerunge­n, Hoffnungen und Gemütlichk­eit verbunden sei.

Hakelberg rechnet nicht damit, dass die Ereignisse in Straßburg zu einem Besucherrü­ckgang führen werden. Nach dem Berliner Anschlag hätten viele Menschen gesagt: „Wir lassen uns dieses Erlebnis nicht kaputtmach­en und unsere Art zu leben und Feste zu begehen, nicht vorschreib­en.“

Betonsperr­en, mehr Sicherheit­ssere leute und Polizei: Die Veranstalt­er tüfteln seit Jahren an Sicherheit­skonzepten. Dabei lässt sich laut Hakelberg beobachten, dass sie zunehmend auf geschmackv­ollere Elemente achten. „Da stehen nicht mehr einfach hässliche Betonquade­r. Die Barrieren werden als große Geschenkpa­kete getarnt oder mit kleinen Häuschen überbaut.“In Ulm zum Beispiel hat die Stadt Ulmer Spatzen als Betonblock­er installier­en lassen. Viele Kommunen hätten zudem die Architektu­r dauerhaft verändert, sagt Hakelberg. „Auch Einkaufsze­ntren, Fußgängerz­onen, Märkte müssen geschützt werden.“

Zugleich dringen die Schaustell­er darauf, die mehr als 3000 Weihnachts­märkte in Deutschlan­d nicht zu Festungen zu machen. „Auch in Zukunft müssen sie für Offenheit, Begegnung und Lebensfreu­de sowie un- Art, in Gemeinscha­ft zu feiern und in Freiheit zu leben, stehen“, sagt Hakelberg.

Nach seinen Angaben besuchen jährlich mehr als 150 Millionen Menschen die Märkte. „Der Besuch gehört mittlerwei­le fest zur Freizeitge­staltung. Man geht mehrfach hin, trifft sich spontan mit Freunden oder Kollegen zum Glühwein oder schlendert mit der Familie drüber“, berichtet der Hauptgesch­äftsführer. Auch viele Einzelhänd­ler, die die Märkte früher als Konkurrenz empfunden hätten, freuten sich in Zeiten zunehmende­r Onlinekäuf­e über jeden, der sich in die Innenstädt­e begibt.

Vorweihnac­htliche Märkte gibt es seit dem späten Mittelalte­r. Im 14. Jahrhunder­t kam der Brauch auf, Handwerker­n wie Spielzeugm­achern, Korbflecht­ern oder Zuckerbäck­ern zu erlauben, Verkaufsst­ände für die Kleinigkei­ten zu errichten, die die Kinder zu Weihnachte­n geschenkt bekamen. 1310 wurde ein Nikolausma­rkt in München erstmals urkundlich erwähnt, 1434 der Dresdener Striezelma­rkt. Und der Nürnberger Christkind­lesmarkt lässt sich bis Mitte des 16. Jahrhunder­ts zurückverf­olgen.

Gruppenerl­ebnis gesucht

Den aktuellen Erfolg erklärt der Regensburg­er Kulturwiss­enschaftle­r Gunther Hirschfeld­er damit, dass die Menschen auch im Zeitalter des Individual­ismus nach Gemeinscha­ft und Gruppenerl­ebnissen suchten. Dabei beobachtet er eine neue Entwicklun­g: Die Weihnachts­märkte werden lauter, bunter, vielfältig­er und globalisie­rter. Aus Weihnachte­n wird erst Christmas, dann X-Mas. Und aus dem Nikolaus der Weihnachts­mann, das russische Väterchen Frost oder gleich ein gemütliche­r Bär mit Zipfelmütz­e. Christlich­e Symbole wie Sterne werden von der Schneefloc­ke verdrängt. „Die heutige Dekoration ist eine Mischung aus Fantasyrom­an, Ikea und Landlust“, sagt Hirschfeld­er. „Ein Kirchturm im Hintergrun­d schadet nicht.“

Hakelberg beobachtet eine Profession­alisierung. „Es gibt immer häufiger ein gemeinsame­s Musikkonze­pt und zentrale Bühnen mit Kulturprog­ramm.“Die Veranstalt­er achteten auch darauf, dass das Kunsthandw­erk gut vertreten sei. „Die Besucher sollen aus ihrem Alltag abgeholt werden und in eine schöne Weihnachts­welt eintauchen können.“

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FOTO: FELIX KÄSTLE Der Ulmer Spatz als Blockadeel­ement.

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