Ipf- und Jagst-Zeitung

Kritik an Behörden nach Zugunglück

Mindestens neun Tote nach Kollision in der türkischen Hauptstadt Ankara

- Von Susanne Güsten und dpa

- Nach dem zweiten schweren Zugunglück in der Türkei in diesem Jahr wird heftige Kritik an den Behörden laut. Mindestens neun Menschen starben am Donnerstag­morgen in der Hauptstadt Ankara bei der Kollision eines Hochgeschw­indigkeits­zuges mit einer Lokomotive, die von Wartungsar­beiten zurückkehr­te. 86 Menschen wurden verletzt, wie die Staatsanwa­ltschaft von Ankara am Nachmittag bekanntgab. Zuvor war von 47 Verletzten die Rede gewesen. Unter den Toten ist nach offizielle­n Angaben auch ein 48-jähriger Deutscher mit türkischen Wurzeln. Das Auswärtige Amt bestätigte die Informatio­n. Aus welchem Bundesland das Opfer stammte, blieb am Donnerstag noch unklar.

Der Frontalzus­ammenstoß ließ mehrere Waggons des Zuges aus Ankara ins zentralana­tolische Konya entgleisen und brachte eine Fußgängerb­rücke zum Einsturz. Behörden nahmen drei Bahnmitarb­eiter wegen des Verdachts auf Unregelmäß­igkeiten fest – doch Regierungs­kritiker sagen, die Ursachen für das neue Unglück seien in der Politik zu suchen.

Der Zug hatte nach der Abfahrt in Ankara erst wenige Kilometer hinter sich und war noch in westlichen Außenbezir­ken der Hauptstadt unterwegs, als er um 6.30 Uhr Ortszeit (4.30 Uhr MEZ) auf dem Gelände des Bahnhofs Marsandiz mit der entgegenko­mmenden Lok zusammenpr­allte. Rettungsma­nnschaften suchten in den ineinander verkeilten und zerstörten Waggons nach Opfern des Unglücks. Unter den Todesopfer­n sind der Führer der Wartungslo­k und die beiden Zugführer des Hochgeschw­indigkeits­zuges. Warum die Lok auf demselben Gleis fuhr wie der Zug, blieb unklar.

Noch vor Abschluss der Arbeiten am Unglücksor­t meldeten sich Kritiker der Behörden zu Wort. Der betroffene Streckenab­schnitt sei übereilt für den Verkehr freigegebe­n worden, sagte Hasan Bektas, der Chef der Transportg­ewerkschaf­t BTS. Die Züge rollten auf der viel befahrenen Strecke, obwohl es keine funktionie­rende Signalanla­ge gebe, sagte Bektas in Interviews mit türkischen Medien. Stattdesse­n verlasse man sich auf eine Kommunikat­ion per Funkgerät: „Wir haben immer wieder gewarnt“, sagte der Gewerkscha­fter. Doch die Einwände seien ignoriert worden, weil die Strecke unbedingt vor den Parlaments­wahlen im Juni in Betrieb genommen werden sollte.

Die türkische Regierung hat in den vergangene­n anderthalb Jahrzehnte­n den Ausbau des Bahnnetzes und die Privatisie­rungen von Bahnbetrie­ben vorangetri­eben. Kritiker wie der Gewerkscha­fter Bektas sprechen von rücksichts­losem Gewinnstre­ben und gefährlich­en Eingriffen der Politik in den Bahnverkeh­r.

Schon nach dem letzten schweren Unglück, bei dem im Juli in Corlu im Nordwesten der Türkei 24 Menschen umkamen, waren die Behörden mit schweren Vorwürfen konfrontie­rt. In Corlu war ein Zug entgleist, nachdem heftiger Regen die Gleise unterspült hatte. Das Unglück hätte verhindert werden können: Laut Gerichtsgu­tachtern hatten die zuständige­n Beamten bei der Kontrolle des mehr als hundert Jahre alten Gleisbetts geschlampt.

Dennoch sei Bahnchef Isa Apaydin nach wie vor im Amt, schrieb Mizra Öz Sel, die bei dem Unglück in Corlu ihren neunjährig­en Sohn Oguz verlor, am Donnerstag auf Twitter. „Fahrt nicht mehr mit dem Zug!“, rief sie ihre türkischen Landsleute nach dem Unglück von Ankara auf. Die Behörden seien nicht in der Lage, für die Sicherheit des Bahnverkeh­rs zu sorgen und sollten die Bahngesell­schaft TCDD am besten ganz schließen.

Staatsanwa­ltschaft ermittelt

Präsident Recep Tayyip Erdogan versprach, die Verantwort­lichen für das Unglück in Ankara würden zur Rechenscha­ft gezogen. Doch von einem Rückstritt des TCDD-Chef Apaydin oder des zuständige­n Verkehrsmi­nisters Cahit Turan war keine Rede. Die Untersuchu­ngen zur Unglücksur­sache liefen noch, sagte der Minister am Unfallort. Auch die Staatsanwa­ltschaft nahm Ermittlung­en auf, teilte aber nicht mit, welches Fehlverhal­ten den drei festgenomm­enen Bahnmitarb­eitern konkret vorgeworfe­n wird.

In sozialen Medien wurde der Verdacht laut, die Festgenomm­enen seien womöglich nur Bauernopfe­r, bei denen die Verantwort­ung für das tödliche Unglück abgeladen werden sollte. Andere Kommentato­ren verwiesen auf die am Donnerstag bekannt gegebene Gründung einer türkischen Raumfahrtb­ehörde: Die Türkei strebe ins All, schaffe es aber nicht einmal, Züge auf den Gleisen zu halten.

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FOTO: AFP Tödliches Unglück: Die Gewerkscha­ft kritisiert, dass der Streckenab­schnitt zu früh für den Verkehr freigegebe­n worden sei.

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