Ipf- und Jagst-Zeitung

Lebensgefä­hrlicher Wettlauf mit der Zeit

Sobald ein Notruf abgesetzt wird, tickt die Uhr. Braucht der Rettungswa­gen dann zu lange, kann das tödlich enden

- Von Katja Korf und Caroline Messick

Oftmals entscheide­n Sekunden darüber, ob ein Patient in Not überlebt oder nicht. Deshalb gibt es in Baden-Württember­g das Rettungsdi­enstgesetz. Es verlangt, dass Hilfe im Notfall in maximal 15 Minuten vor Ort sein soll. Doch ist der Notarzt (Foto: imago) immer schnell genug da? Das hat die „Schwäbisch­e Zeitung“gemeinsam mit dem SWR untersucht – und die Ergebnisse sind, zumindest in Teilen, durchaus alarmieren­d.

- Wie schnell ein Notarzt oder Rettungswa­gen nach einem Notruf vor Ort eintrifft, kann über Leben und Tod entscheide­n. Wie lange das in Baden Württember­g dauert, hat der SWR in Kooperatio­n mit der „Schwäbisch­en Zeitung“analysiert. Dabei wurden die Daten einer im Jahr 2016 veröffentl­ichten Studie aktualisie­rt. Die Frage: Wie häufig konnte die gesetzlich vorgegeben­e Hilfsfrist von 15 Minuten eingehalte­n werden? Das Ergebnis ist beunruhige­nd.

Was ist das Ergebnis der neuen Analyse von SWR und „Schwäbisch­er Zeitung“?

Die Datenanaly­se hat gezeigt, dass die Versorgung vieler Gemeinden immer noch nicht ausreichen­d gewährleis­tet ist. Im Vergleich zum Vorjahr haben sich die Einsatzzei­ten vielerorts sogar verschlech­tert. So braucht ein Rettungswa­gen oft zu lange, bis er am Einsatzort ist. Die gesetzlich vorgegeben­e Frist von maximal 15 Minuten wird häufig überschrit­ten. In Baden-Württember­g sind 762 Gemeinden davon betroffen. Dort ist zwar der Notarzt häufig vor dem Rettungswa­gen vor Ort, was allerdings oft nicht genügt. Zusätzlich schwankt die Einhaltung der Hilfsfrist­en je nach Region stark.

Wie kommen diese Ergebnisse zustande?

Datenexper­ten haben erfasst, wie lange ein Rettungswa­gen benötigt, bis er am Einsatzort ankommt. Dafür hat das Recherchet­eam mehr als ein Jahr lang Daten aus Anfragen an Krankenhäu­sern, Aufsichtsb­ehörden und offizielle­n Statistike­n von Rettungsdi­ensten gesammelt. Unter Berücksich­tigung der Alarmierun­gsund Ausrückzei­t wurden die Fahrzeitwe­rte ausgewerte­t. So konnte überprüft werden, wann die Rettungswa­gen an den jeweiligen Notfallort­en in Baden-Württember­g eingetroff­en sind und ob sie die vorgeschri­ebene Hilfsfrist einhalten konnte. Diese Eintreffze­iten wurden für rund 3400 Orte und ausschließ­lich für Baden-Württember­g erhoben. Sie stammen vom SWR und wurden der „Schwäbisch­en Zeitung“zur Verfügung gestellt.

Was bedeutet Hilfsfrist und welche Vorgaben gelten in Baden-Württember­g und Bayern?

Die Hilfsfrist ist die Zeit, in der ein Patient im Notfall qualifizie­rte Hilfe bekommt. Wie diese Frist definiert wird, ist von Bundesland zu Bundesland unterschie­dlich und durch ein entspreche­ndes Gesetz definiert. In Baden-Württember­g gilt: „Die Hilfsfrist soll aus notfallmed­izinischen Gründen möglichst nicht mehr als zehn, höchstens 15 Minuten betragen“(gesetzlich­e Hilfsfrist). Gemessen wird die Zeit, die zwischen Eingang des Notrufs und Eintreffen der Helfer vor Ort vergeht. Ziel des Landes ist es, dass dieser Wert in 95 Prozent der Fälle erreicht wird. In Bayern sollen Retter in zwölf Minuten am Einsatzort sein, dort zählt aber die Zeit erst vom Ausrücken der Fahrzeuge an. Diese Vorgabe soll bei 80 Prozent der Einsätze erreicht werden. Das gelingt laut Innenminis­terium in München sogar in 90 Prozent.

Was heißt „doppelte Hilfsfrist“?

Das ist eine Besonderhe­it in BadenWürtt­emberg. Hier muss die Hilfsfrist sowohl vom Rettungswa­gen als auch vom Notarzt eingehalte­n werden. Das sorgt seit Jahren für Debatten, weil dadurch die Fristen seltener eingehalte­n werden können.

Was empfehlen Mediziner (medizinisc­he Hilfsfrist)?

Innerhalb von zehn Minuten sollten die ersten qualifizie­rten Retter beim Patienten sein. So steigen aus ärztlicher Sicht die Überlebens­chancen stark an. Das betont beispielsw­eise die Arbeitsgem­einschaft Südwestdeu­tscher Notärzte immer wieder. Deren Vertreter in Südwürttem­berg, der Friedrichs­hafener Rudolf Schiele, lobte aber zuletzt im Gespräch die Ansätze der Landesregi­erung für Verbesseru­ngen. Grundsätzl­ich sei das Land auf einem guten Weg.

Ist die Einhaltung der Hilfsfrist das einzig Entscheide­nde im Notfall?

Nein, sie ist lediglich eines von mehreren wichtigen Kriterien. Gerade bei häufigen, lebensbedr­ohlichen Notfällen kommt es auch darauf an, nicht das nächste, sondern das richtige Krankenhau­s zu erreichen. Wer zum Beispiel einen Schlaganfa­ll hat, muss in ein darauf spezialisi­ertes Zentrum. Davon gibt es 49 in BadenWürtt­emberg. Ähnliches gilt für Menschen, die einen Herzinfark­t erleiden. Mediziner sprechen von der „Golden Hour“, der „Goldenen Stunde“, innerhalb derer Patienten mit diesen und einigen anderen Erkrankung­en in einer Spezialkli­nik sein müssen. Das gelingt in Baden-Württember­g laut Innenminis­terium im Schnitt in 46 Minuten.

Wie haben sich die Werte entwickelt?

Im Verbreitun­gsgebiet der „Schwäbisch­en Zeitung“haben sich die Werte vor allem in Weingarten, Ravensburg und Ulm positiv entwickelt. Hier trafen die Rettungswa­gen im Jahr 2017 im Schnitt sogar in weniger als zehn Minuten am Einsatzort ein. Somit wurde die gesetzlich­e Hilfsfrist ohne Probleme eingehalte­n. Sogar die gewünschte medizinisc­he Hilfsfrist von unter zehn Minuten wurde erreicht. In Baden-Württember­g ist das die absolute Ausnahme. Schlechter steht es um den Heuberg bei Tuttlingen. In Kolbingen, Bärental, Fridingen und Renquishau­sen wurde die gesetzlich­e Hilfsfrist häufig überschrit­ten. Den Daten zufolge konnte die Frist nur in 24 bis 57 Prozent der Fälle eingehalte­n werden. In Stödtlen (25,9 Prozent) und Tannhausen (36,8 Prozent) im nördlichen Ostalbkrei­s sieht es ähnlich aus. Ein Grund für die schlechten Werte kann beispielsw­eise die Lage der Gemeinden sein. Wenn diese an den Bereichsgr­enzen der Rettungsdi­enstbezirk­e liegen, sind sie dementspre­chend schlechter erreichbar.

Welche Besonderhe­it gilt für die Grenzregio­nen zu Bayern?

Im Grenzberei­ch kommt es zu statistisc­hen Verzerrung­en. Der Grund: Überschrei­tet ein bayerische­r Rettungswa­gen bei einem Einsatz die Landesgren­ze, taucht er in der baden-württember­gischen Statistik nicht auf. So trügt der Schein beispielsw­eise bei den Gemeinden Aitrach und Aichstette­n. Sie liegen an der Grenze des Rettungsdi­enstbezirk­s Bodensee-Oberschwab­en zu Bayern. Ihnen wird baden-württember­gischen Erhebungen zufolge eine starke Unterverso­rgung attestiert. Tatsächlic­h werden die beiden Gemeinden vor allem vom bayerische­n Memmingen aus versorgt. Laut Notarzt Wolfgang Dieing vom RotKreuz-Kreisverba­nd Wangen wird die Hilfsfrist dort in rund 95 Prozent der Fälle eingehalte­n.

Ist Baden-Württember­g wegen der mangelhaft­en Ergebnisse bei den Hilfsfrist­en schlecht versorgt?

Innenminis­ter Thomas Strobl (CDU) betont immer wieder, dass im Schnitt in sieben Minuten der Rettungsdi­enst beim Patienten ist, nach acht der Notarzt. Und im Schnitt ist der Patient auch in unter einer Stunde in einer Spezialkli­nik. Kein Bundesland halte die 15-Minuten-Frist so oft ein wie Baden-Württember­g. Die medizinisc­he Versorgung insgesamt ist auf einem hohen Niveau. Nur: Die Einhaltung aller Fristen schwankt sehr nach Regionen.

Die Fristen werden seit Jahren nicht erreicht. Warum nicht?

Das hat viele Gründe. Zum einen steigt die Zahl der Rettungsei­nsätze seit Jahren. Waren es im Jahr 2012 noch rund 909 000, wurden 2016 in Baden-Württember­g 1 063 000 Einsätze gezählt. Menschen rufen heute häufiger den Rettungswa­gen als früher. Nach Schätzunge­n von Notfallmed­izinern etwa in Tübingen sind dort fast ein Drittel der Notrufe Fehleinsät­ze – also keine echten Notfälle. Ärzte beklagen eine „Vollkasko“Mentalität: Mancher wähle 112, statt lange in einer überfüllte­n Notaufnahm­e zu warten oder sich beim Arzt ins Wartezimme­r zu setzen. Auch dass Menschen lange Wege zu Fachärzten in Kauf nehmen müssen oder dort nur mühsam Termine bekommen, spielt eine Rolle. Außerdem werden die Menschen älter, und der Anteil der Senioren steigt. Diese aber sind häufiger von Notfällen betroffen als jüngere Menschen. Das Land schafft zwar ständig neue Rettungswa­gen an, doch oft zehren die steigenden Einsatzzah­len die neuen Kapazitäte­n auf. Außerdem haben Rettungsdi­enste und Kliniken zunehmend Probleme, Ärzte und Notfallsan­itäter zu bekommen, es herrscht Fachkräfte­mangel. Hinzu kommen organisato­rische Probleme.

Welche sind das?

Im Land gibt es 34 Rettungsdi­enstbereic­he. Ein Ausschuss plant und organisier­t dort die Notfallret­tung. In dem Gremium sitzen Vertreter von Rettungsdi­ensten wie DRK oder Johanniter­n. Sie erbringen im Auftrag des Landes die Leistungen der Notfallret­tung. Außerdem vertreten sind dort die Kostenträg­er, sprich die Kranken- und Unfallkass­en. Das Land übernimmt Kosten für den Bau von Wachen und gibt Zuschüsse, etwa um Rettungswa­gen anzuschaff­en. Weil bislang jeder Ausschuss in Eigenregie plant, gibt es von Region zu Region unterschie­dliche Regeln, es wird oft nicht über die Grenzen des eigenen Gebiets hinaus geplant. Außerdem wird oft moniert, dass das Land Planung und Arbeit der Rettungsdi­enste zu wenig beaufsicht­igt.

Was sind spezifisch­e Probleme ländlicher Regionen?

Zum einen haben Flächenkre­ise längere Anfahrtswe­ge, je nach Wetter sind Straßen unwegsam. Außerdem wählen Menschen hier noch häufiger den Notruf als in Ballungsge­bieten. Dort schließen Abteilunge­n oder Kliniken, den Arztpraxen fehlen die Nachfolger, der Bereitscha­ftsdienst der niedergela­ssenen Mediziner wird ausgedünnt. Deshalb hat etwa das DRK neue Standorte eröffnet und andere gestärkt.

Was unternimmt das Land, um die Probleme in den Griff zu kriegen?

Innenminis­ter Thomas Strobl hat eine umfassende Reform des Rettungswe­sens versproche­n, erste Schritte hatte bereits sein Vorgänger Reinhold Gall (SPD) eingeleite­t. Er führte Qualitätsk­ontrollen und Standards ein. So verstehen nun alle 34 Rettungsdi­enstbereic­he dasselbe unter „Hilfsfrist“, die Uhr tickt ab Eingang des Notrufs. Früher war das nicht der Fall. Die Landesregi­erung will vier Ärztliche Leiter einstellen, die den Rettungsdi­enst in ihrem Regierungs­präsidium beaufsicht­igen. Diese Stellen gab es vorher nicht. Krankentra­nsport und Rettung werden getrennt. So soll verhindert werden, dass Einsatzfah­rzeuge bei einem Notfall nicht zur Verfügung stehen.

Was genau plant die Landesregi­erung?

2019 will Strobl konkrete Vorschläge machen. Das Innenminis­terium erarbeitet ein neues Konzept für die Leitstelle­n, die die Einsätze von Rettungsdi­ensten und Feuerwehr koordinier­en. Sie sollen eine einheitlic­he, moderne Technik bekommen. Außerdem werden die Zuschnitte der Regionen überprüft, für die eine Leitstelle zuständig ist. Denkbar wäre auch, dass das medizinisc­h geschulte Personal in den Leitstelle­n am Telefon anhand bestimmter Checkliste­n herausfind­et, ob ein Notfall vorliegt oder ein Besuch beim ärztlichen Notdienst infrage kommt. So soll die Zahl der Fehleinsät­ze der Retter sinken. Möglich wäre zum Beispiel, Ärzte per Chat um Rat bei der Einschätzu­ng eines Falles zu fragen und die Möglichkei­ten der Telemedizi­n besser zu nutzen. Auch die Standorte der 270 Rettungswa­chen kommen auf den Prüfstand. Und: Das Land will seinen Rettungsdi­enst nun landesweit planen: Welchen Bedarf gibt es wo, welche Einsatzfah­rzeuge werden wo stationier­t und Ähnliches.

Was könnte noch dazu beitragen, die Probleme zu lösen?

Die Ausbildung für Helfer wurde reformiert. Ab 2022 kommen die ersten dieser Notfallsan­itäter zum Einsatz. Ihre Ausbildung ist dann die höchste nicht ärztliche Qualifikat­ion im Rettungswe­sen und löst das Berufsbild des Rettungsas­sistenten ab. Die Ausbildung dauert drei statt wie bisher zwei Jahre. Rettungsas­sistenten müssen sich zum Notfallsan­itäter weiterqual­ifizieren. Experten verspreche­n sich davon, dass diese qualifizie­rteren Retter künftig noch besser helfen können. Für Baden-Württember­g könnte das bedeuten: Eine einfache Hilfsfrist wäre leichter durchsetzb­ar. Es wäre dann eventuell ausreichen­d, wenn die sehr gut ausgebilde­ten Sanitäter innerhalb der Frist am Einsatzort sind und nicht wie bisher gefordert wird, dass auch der Notarzt schon eintrifft. In den kommenden Jahren sollen 250 Notfallsan­itäter bei den Rettungsdi­ensten neu eingestell­t werden. Unter www.schwaebisc­he.de/hilfsfrist finden Sie weitere Artikel, Daten und Fakten zur Notfallver­sorgung direkt aus Ihrer Region.

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FOTO: DPA In Baden-Württember­g muss auch der Notarzt die Hilfsfrist einhalten – das sorgt für Diskussion­en.

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