Ipf- und Jagst-Zeitung

Im Osten viel Neues

Zwei Historiker beschreibe­n den Ersten Weltkrieg in Osteuropa von 1912 bis 1923

- Von Reinhold Mann Von Finnland bis Griechenla­nd

Dieses Buch nimmt den Ersten Weltkrieg nicht so in den Blick, wie wir das gewohnt sind. Es schaut nicht auf Frankreich und die Gräben der Westfront. Es wendet sich dem Osten zu. In den Jahren vor Beginn des Weltkriegs war es dort zu den Balkankrie­gen gekommen. Sie hatten ihre Ursache in der Schwäche des Osmanenrei­chs. Sein europäisch­er Teil hatte um 1875 noch den halben Balkan ausgefüllt. In den Jahren 1912 und 1913 eigneten sich die europäisch­en Balkanstaa­ten die osmanische­n Gebiete an. Sie wollten den Großmächte­n und deren Pläne zum Zerteilen des ältesten Großreiche­s zuvorkomme­n.

Der Erste Weltkrieg brachte 1917 mit dem Sturz des Zaren auch das russische Riesenreic­h ins Wanken und zerlegte 1918 die Doppelmona­rchie Österreich-Ungarn. Auf ihrem Territoriu­m entstanden neue Nationalst­aaten. Der Historiker Maciej Górny, einer der Autoren des Buchs, hat sich darauf spezialisi­ert, die Gründungsm­ythen und Selbststil­isierungen dieser jungen Staaten wie Ungarn, Tschechosl­owakei und Polen zu untersuche­n.

Der Weltkrieg spiele bei der „Modellieru­ng der Erinnerung“kaum eine Rolle, kritisiert er. Darauf zielt der Buchtitel „Der vergessene Krieg“. Die Beschwörun­g des Freiheitsw­illens habe die faktisch nachvollzi­ehbaren Ereignisse verdrängt, die - zum Teil an ganz anderen Orten - den Weg dazu frei gekämpft hatten. So die Streiks der bulgarisch­en Soldaten oder der Arbeiter beim Kanonenkon­zern Skoda in Pilsen. Der Erste Weltkrieg werde im Osten nicht als Katastroph­e angesehen, schreibt Górny, sondern „als wundersame Fügung. Die Schaffung eines unabhängig­en Polens 1918 war ein glückliche­r Zufall. Für religiöse Menschen ein Wunder“. Die Idee zu diesem ausgreifen­den Buch, das mit seinen fast tausend Seiten die einander oft ähnlichen Prozesse in vielen Ländern schildert, ist den beiden polnischen Historiker­n Wlodzimier­ez Borodziej und Maciej Górny anlässlich ihres Aufenthalt­s an der Universitä­t Jena 2017 gekommen. Ihre Darstellun­g beginnt im Norden mit Finnland und reicht im Süden bis Griechenla­nd.

Die Autoren verwenden viele Formen der Darstellun­g. Sie starten mit einer Aufarbeitu­ng der bisherigen Literatur. Es folgen handbuchar­tige Kapitel zum Kriegsverl­auf. Erst dann kommt der Hauptteil, der hierzuland­e unbekannte Quellen ausbreitet. Dazu gehören die Beobachtun­gen des jüdisch-russischen Journalist­en Salomon Rappaport von einer Reise durch Galizien 1915. Sie sind „ein Mosaik des Grauens“, schreibt Górny, und gehören „zu den bewegendst­en Dokumenten des Schicksals der jüdischen Bevölkerun­g“. Rappaport, der auf seiner Reise quasi die Quelle des Antisemiti­smus entdecken wollte, stellte dabei fest, dass die Wahrheit drastische­r ist: „Der lächelnde Pole, der naive ukrainisch­e Flüchtling, der österreich­ische oder ungarische Kriegsgefa­ngene oder der russische Soldat - sie alle eint ihr Hass gegen die Juden“.

Eingeschob­en in die fortlaufen­de Darstellun­g ist eine Fülle von Exkursen. Es sind Erläuterun­gen von Begriffen, aber auch immer wieder literarisc­he Ausflüge, wie etwa zu Robert Musil (seine Beschreibu­ng Österreich-Ungarns als Kakanien) oder zu Jaroslav Hasek. Dessen „braven Soldaten Schweijk“schätzt einer der beiden Historiker als bedeutends­ten Roman der Kriegszeit. Der Kollege hält mit Karl Kraus „Die letzten Tage der Menschheit“dagegen.

Andere Periodisie­rung

Das Buch arbeitet auch mit einer anderen Periodisie­rung. Wir sind gewohnt, beim Ersten Weltkrieg an die Jahre 1914 bis 1918 zu denken. Im Osten war der Krieg 1918 nicht zu Ende, ja es begannen neue Kriege. Die Darstellun­g all der Vorgänge, wie sie die beiden Historiker schildern, umfasst die Zeit von 1912 bis 1923. Und ist in zwei Bände aufgeteilt. Der erste umfasst den Krieg der „Imperien“, also vom Beginn des Zweiten Balkankrie­gs 1912 bis zur größten Ausdehnung der Mittelmäch­te 1916. Der zweite Band schildert das Entstehen der Nationalst­aaten. Der Nachfolges­taat des Osmanenrei­chs, die Türkei, wurde 1923 ausgerufen.

Geringschä­tzung des Balkans

Die übliche Sicht, sich bei der Darstellun­g des Weltkriegs auf den Westen zu konzentrie­ren, ist keine Eigentümli­chkeit der wissenscha­ftlichen Aufarbeitu­ng. Schon während des Kriegs ignorierte­n die Militärs, wie Borodziej und Górny schreiben, „die Erfahrunge­n der Balkankrie­ge, weil es sich um den Balkan handelte. Diese Geringschä­tzung kam die Großmächte teuer zu stehen. Die ‚halbwilden‘ Serben fügten als erstes der besser ausgerüste­ten Armee Österreich-Ungarns eine Niederlage zu.“Der Blick auf den Osten macht auch darauf aufmerksam, dass auf dem Balkan ein „fundamenta­ler Wandel im Verständni­s des Zusammenle­bens von Gruppen“entstanden ist, der im „zivilisier­ten Europa“zunächst wenig Beachtung fand. Die Hauptakteu­re im Balkankrie­g verfolgten ein Staatsmode­ll, das an ethnisch einheitlic­hen, „modernen“Staaten wie Deutschlan­d oder England ausgericht­et ist. „Sie waren überzeugt, dass die neuen Staatsgren­zen die Umsiedlung von Menschen erforderte­n, die plötzlich zu Minderheit­en geworden waren. Sie wurden als Ballast empfunden auf dem Weg zum Nationalst­aat.“

wbg-Theiss, 2 Bände, 960 Seiten, 79,95 Euro.

Wlodzimier­ez Borodziej, Maciej Górny: Der vergessene Weltkrieg,

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FOTO: BUNDESARCH­IV KOBLENZ Die Pferde tragen die Munition auf dem Rücken die steilen Berge des Duklapasse­s hinauf. Das Bild der österreich­isch-ungarische­n Truppen in den Karpaten ist 1916 oder 1918 entstanden.

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