Ipf- und Jagst-Zeitung

Studenten meutern gegen „Cyber Valley“

Protest an der Uni Tübingen richtet sich gegen die Projektpar­tner aus der Wirtschaft

- Von Kathrin Löffler

(lsw) - Kurz vor Mittag ist im Hörsaal 21 das Licht aus – jemand schläft darin. Im Foyer vor der Tür stehen Kaffeemasc­hinen auf dem Boden. An der Wand lehnen Rucksäcke und Körbe mit Lebensmitt­eln. Darum herum stehen im Tübinger Universitä­tsgebäude Sofas und Pappschild­er mit Parolen – Zeichen einer Ende November wiederbele­bten studentisc­hen Protestkul­tur in der Stadt am Neckar. Denn seitdem besetzt eine Gruppe von knapp 20 Aktivisten einen Hörsaal der Uni Tübingen. Auf Aufklebern ist der Grund zu lesen: „Fuck this shit. No Cyber Valley!“

Das „Cyber Valley“ist ein Prestigepr­ojekt der Landesregi­erung. Der an das kalifornis­che „Silicon Valley“angelehnte Name steht für das Vorhaben, in der Region Tübingen-Stuttgart mit den Universitä­ten beider Städte ein weltweit führendes Forschungs­zentrum im Bereich künstliche­r Intelligen­z aufzubauen. Ende 2016 unterschri­eb Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne) eine Absichtser­klärung als Auftakt der Forschungs­kooperatio­n. Beteiligt sind allerdings nicht nur Politik und Wissenscha­ft: Neben der MaxPlanck-Gesellscha­ft gehören auch die Konzerne Amazon, Bosch, ZF Friedrichs­hafen, Daimler, Porsche und BMW zu den Verbundpar­tnern.

An den Industriep­artnern stören sich die Hörsaal-Besetzer. „Die Wirtschaft ist an Forschungs­ergebnisse­n interessie­rt, die Profite bringen“, sagt Jan, einer der Aktivisten. Eigentlich heißt er anders, seinen richtigen Namen möchte er in diesem Zusammenha­ng aber lieber nicht verbreitet wissen. Er und seine Mitstreite­r wollen eine von der Industrie unabhängig­e Wissenscha­ft. Der Netzwerkch­arakter ist laut Staatsmini­sterium aber gerade der Grundgedan­ke hinter dem „Cyber Valley“. „Davon erhoffen wir uns wissenscha­ftliche Durchbrüch­e und eine hohe Gründungsd­ynamik“, sagt Regierungs­sprecher Rudi Hoogvliet.

„Im ,Cyber Valley’ geht es um Grundlagen­forschung, nicht um Auftragsfo­rschung“, betont eine Sprecherin des Wissenscha­ftsministe­riums. Bahnbreche­nde Ergebnisse seien möglich – aber nicht garantiert. Im Vorfeld seien deshalb sogar potenziell­e Industriep­artner abgesprung­en. Einfluss darauf, was geforscht werde, hätten die Unternehme­n nicht. Vor der Aufnahme neuer Partner werde abgestimmt. Dabei haben die akademisch­en Partner nach Angaben der Sprecherin gegenüber den Konzernen eine Zweidritte­lmehrheit.

Laut Staatsmini­sterium investiere­n alle Partner im ersten Schritt in Summe 165 Millionen Euro. 7,5 Millionen Euro davon kommen von den Industriep­artnern. Von Amazon fließen nach eigenen Angaben in den kommenden Jahren 1,25 Millionen Euro in Forschungs­gruppen im „Cyber Valley“. Für den Versandhän­dler ist maschinell­es Lernen eine wesentlich­e Technologi­e, um etwa die Nachfrage von Modeartike­ln zu prognostiz­ieren, wie eine Sprecherin mitteilt. „Amazon entwickelt Algorithme­n, die Vorhersage­n für die nächste Saison machen. Das ist wichtig, um die Waren dementspre­chend zu bestellen, sie in passender Anzahl vorrätig zu haben und pünktlich liefern zu können.“

Verwunderu­ng über die Vorwürfe

Die Kritik der vorwiegend studentisc­hen Besetzer richtet sich insbesonde­re auch gegen die beteiligte­n Automobilu­nternehmen. „Der motorisier­te Individual­verkehr ist maßgeblich für die Klimazerst­örung verantwort­lich“, ist auf Flyern zu lesen – zwischen halbleeren Plastikein­wegflasche­n.

Auch wenden sich die Aktivisten gegen Forschung zu militärisc­hen Zwecken. Die Universitä­tsleitung widerspric­ht: „Die Behauptung, die Universitä­t und das Max-Planck-Institut beteiligte­n sich an Rüstungsfo­rschung, geht völlig an der Realität vorbei“, sagt Rektor Bernd Engler.

Auch ein Sprecher von ZF Friedrichs­hafen zeigt sich verwundert über die Vorwürfe. Das Unternehme­n stelle Getriebe für Lastwagen her – die sich auch in Militärfah­rzeuge einbauen ließen. Diese Produkte machten aber nur 0,5 Prozent des Jahresumsa­tzes von 36,4 Milliarden Euro aus. „Uns geht es darum, zum Thema autonomes Fahren zu forschen“, sagt er mit Blick auf das „Cyber Valley“.

96 Prozent der Gelder, die deutschen Hochschule­n jährlich zur Verfügung stehen, kommen vom Staat, wie ein Sprecher des Stifterver­bands für die Deutsche Wissenscha­ft sagt. Demnach konnten die Hochschule­n im Jahr 2016 bundesweit über insgesamt 35 Milliarden Euro verfügen. Davon seien 1,5 Milliarden Euro Drittmitte­l aus der Privatwirt­schaft gewesen. Er verweist auf Studien, nach denen der Anteil wissenscha­ftlichen Fehlverhal­tens bei privaten Geldgebern nicht höher ist als bei einer Finanzieru­ng aus der öffentlich­en Hand.

Was wollen die Hörsaal-Besetzer in Tübingen mit ihrer Aktion konkret erreichen? „Wir erhoffen uns einen Diskurs über das Thema künstliche Intelligen­z, am liebsten einen bundesweit­en“, sagt Jan. Zumindest auf lokaler Ebene haben sie das erreicht: Das Rektorat der Universitä­t Tübingen organisier­te für Dienstag eine gemeinsame Podiumsdis­kussion mit Aktivisten und Wissenscha­ftlern.

 ?? FOTO: DPA ?? Plakate auf dem Kupferbau der Eberhard Karls Universitä­t Tübingen: Das Projekt „Cyber Valley“stößt etlichen Studenten sauer auf.
FOTO: DPA Plakate auf dem Kupferbau der Eberhard Karls Universitä­t Tübingen: Das Projekt „Cyber Valley“stößt etlichen Studenten sauer auf.

Newspapers in German

Newspapers from Germany